Agenda 2017:So sollten Kinder betreut werden

Agenda 2017 Kita und Schule

Den Interessen der Kinder folgen: Wenn die Jungen und Mädchen ihre Nasen gerade gern in Bücher stecken, sollten Erzieher sie nicht zum Singen zwingen.

(Foto: Getty Images)

Der Krippenausbau geht voran, doch dabei bleibt die Qualität vielfach auf der Strecke. Was muss passieren, damit Eltern ihre Töchter und Söhne guten Gewissens in die Kita bringen können? Die Agenda 2017 fasst zusammen, was die Politik tun muss - damit Kinder nicht nur verwahrt, sondern auch gefördert werden.

Von Barbara Galaktionow

Lernen geht nicht erst in der Schule los. Egal ob es um Spracherwerb, mathematische Fähigkeiten oder soziale Kompetenzen geht - die Grundlagen werden schon im frühen Kindesalter gelegt. Das ist heute eigentlich allgemein bekannt. Trotzdem wird immer noch zu wenig getan, um dem Rechnung zu tragen. Zwar wurde der Krippenausbau in der vergangenen Legislaturperiode in rasanter Geschwindigkeit vorangetrieben. Die Qualität vieler Einrichtungen blieb dabei aber häufig auf der Strecke.

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Nach der Bundestagswahl haben wir das Projekt Agenda 2017 gestartet. Dieser Text ist Teil einer Reihe von Beiträgen, die den Abschluss dieser Sonderausgabe von Die Recherche bilden. Alles zur Agenda 2017 finden Sie hier, alles zum Format Die Recherche hier.

Wie können Mädchen und Jungen in Kindertagesstätten gut betreut und adäquat gefördert werden? Was muss passieren, damit Eltern ihre Kinder nicht nur aus finanzieller Notwendigkeit, sondern auch guten Gewissens in die Hände von Krippen- und Kindergartenpersonal geben? Darüber hat Süddeutsche.de in einer Online-Diskussion mit Eltern und Experten gesprochen.

Wie sich in der Debatte zeigte, sehen Väter und Mütter gerade die Kleinkinderbetreuung außer Haus immer noch kritisch - nicht, weil sie diese grundsätzlich ablehnen, sondern weil sie daran zweifeln, dass die vorhandenen Angebote den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden. Mit Blick auf eine gute Entwicklung der Kinder war den Teilnehmern vor allem ein Kriterium bei der Betreuung wichtig: die sichere emotionale Bindung an eine oder mehrere Bezugspersonen.

Psychologin Fabienne Becker-Stoll nennt noch zwei weitere Voraussetzungen für kindliches Lernen. Die Kinder müssten das Gefühl haben, etwas bewirken, im Rahmen ihres jeweiligen Entwicklungsstands mitentscheiden zu können, sagt die Direktorin des Münchner Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP). Und sie müssten in ihrer Autonomie gefördert werden. Wenn diese Bedingungen erfüllt seien, sei "all das, was da im Alltag passiert, schon Lernen", stellt Becker-Stoll fest. Hinzu kommt, dass es dem Kita-Personal gelingt, insgesamt eine "warme, herzliche, fröhliche Atmosphäre" zu schaffen.

Mehr Erzieher und Betreuer einstellen

Das klingt erst einmal gar nicht so schwierig, schließlich geht es ja um ganz Alltägliches wie essen, anziehen, schlafen oder spielen. Doch wer sich mit diesem Anspruch ernsthaft auch um nur ein Kind gekümmert hat, weiß, dass es ein hohes Maß an Bewusstsein, Aufmerksamkeit und schlicht Zeit fordert, um die besonderen Fähigkeiten und individuellen Bedürfnisse eines Kindes überhaupt wahrzunehmen und darauf eingehen zu können. Zeit, die Erziehern und Betreuern oft schon allein aufgrund des miserablen Personalschlüssels in vielen Krippen und Kindergärten fehlt. Den legen die Länder fest - oft mit mehr Rücksicht darauf, was finanziell machbar ist als im Hinblick auf den tatsächlichen Bedarf.

Vor allem im Osten Deutschlands ist die Personalsituation oft dramatisch schlecht. So kümmert sich einer Studie des Statistischen Bundesamts zufolge in Sachsen-Anhalt im Schnitt ein Erzieher um sieben Kinder im Alter zwischen null und drei Jahren. In Mecklenburg-Vorpommern muss ein Betreuer etwa 14 Kinder im Alter zwischen zwei und sechs Jahren beaufsichtigen. Bei solch dürftiger Personalausstattung ist es kaum möglich, individuellen Bedürfnissen einzelner Kinder gerecht zu werden - gar nicht zu reden davon, hier auch noch einen besonderen Bildungsauftrag zu erfüllen.

Das Problem: Schon jetzt suchen Kindertagesstätten häufig vergebens nach qualifiziertem Personal. Und der Ausbau der Kleinkinderbetreuung wird die Situation weiter verschärfen. Sozialwissenschaftler Stefan Sell kritisiert, dass trotzdem immer noch zu wenig getan wird, um dem steigenden Bedarf Rechnung zu tragen. "Die Länder, die für die Fachschulen zuständig sind, bauen definitiv immer noch viel zu wenig aus", sagt der Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der Fachhochschule Koblenz im Gespräch mit Süddeutsche.de (das vollständige Interview hier).

Doch allein die Zahl der Erzieher ist für die Qualität von Krippen und Kindergärten nicht auschlaggebend. Es gebe sicherlich eine "Schmerzgrenze", unterhalb derer eine vernünftige Betreuung und Förderung nicht möglich sei, sagt Entwicklungsexpertin Becker-Stoll. Doch die Untersuchungen ihres Instituts zeigten: "Hervorragende Qualität finden wir auch unter normaler öffentlicher Förderung - wenn auch leider nicht sehr oft."

16 Bundesländer - 16 Qualitätsstandards

Wie die aussieht, hat zuletzt eine Studie der Bertelmann-Stiftung gezeigt: Danach kümmert sich derzeit im Bundesdurchschnitt in Krippen eine Betreuungsperson um 4,5 Kinder, in Kindergärten um 9,1 Kinder. Experten für frühkindliche Bildung fordern meist einen deutlich besseren Personalschlüssel, von einem Erzieher für maximal vier Kinder, zumindest im Kleinkinderbereich.

Doch auch unter nicht ganz optimalen Bedingungen kann gute Erziehungsarbeit geleistet werden. Wie, das zeigt der Blick auf die erfolgreichen Einrichtungen. Becker-Stoll zufolge kann eine Qualitätssteigerung in den Kitas nur durch ein "immer mehr" an gleich ausgebildeten Erziehern nicht erreicht werden. Wichtig ist die Mischung. Positiv hervorstächen multidisziplinäre Teams mit verschiedenen, sich ergänzenden Berufshintergründen, sagt Becker-Stoll.

Die Kunst bestehe darin, von den Kindern kommende Ideen und Prozesse aufzugreifen und laufen zu lassen - und sie eben nicht durch den immer wieder gleichen Stuhlkreis zu stören. Und das ginge nur mit einem hohem Maß an Reflexion und einem fundierten Verständnis davon, wie Lernen im frühen Kindesalter funktioniert. Dazu bedürfe es eben nicht allein in Fachschulen ausgebildeten Erziehern, sondern auch Personal mit akademischem Hintergrund - mindestens auf Leitungsebene.

Einheitliche Betreuungsstandards schaffen

Mehr Personal und vielfältiger ausgebildete Erzieher - das also wäre nach Ansicht von Experten dringend notwendig, um die Qualität von Krippen und Kindergärten zu verbessern. Nur, wie kann das erreicht werden? Was die Ausbildung der Erzieher angeht, so fällt sie wie die gesamte Bildungspolitik ganz klar in die Zuständigkeit der Länder. Der Bund hat hier keine Handhabe.

Anders sieht es bei der Frage des Personalschlüssels, aber auch bei Vorgaben für den Raumbedarf der Kindertagesstätten aus. Denn hier geht es um den Fürsorgebereich, für den ganz klar der Bund verantwortlich ist, wie Sozialexperte Sell sagt. Derzeit gibt es aber in den 16 Bundesländern völlig unterschiedliche Vorgaben. Und die entsprechen "keiner fachlichen Logik, sondern allein der Entwicklung in den jeweiligen Ländern und den finanziellen Verhältnissen dort", stellt Sell fest.

Um das zu ändern, fordern Experten die Einführung eines Bundesqualitätsgesetzes für Kinderbetreuung. Auch die scheidende Familienministerin Kristina Schröder (CDU) hatte ein solches Bundesgesetz vor mehr als einem Jahr in einem Zehn-Punkte-Plan für die Kinderbetreuung immerhin lose anvisiert - allerdings für das Jahr 2020.

Wirklich unternommen wurde jedoch bislang nichts. Der Grund liegt - wie so oft - beim Geld. Denn wenn der Bund den Kommunen, die für den laufenden Betrieb der Kindertagesstätten zuständig sind, mehr Personal verordnen würde, müsste er die zusätzlichen Kosten zumindest mitfinanzieren.

Doch auch hier ist eine Lösung denkbar: Sozialwissenschaftler Sell schlägt für die Regelung der Finanzierung die Einrichtung eines eigenen Kita-Fonds vor. Über diesen könnten dann auch die finanziell eingebunden werden, die am meisten vom Ausbau der Kinderbetreuung profitieren: Der Bund und die Länder, die die Steuerzahlungen der arbeitenden Eltern erhalten, und die Wirtschaft, die nicht auf ihre Mitarbeiter verzichten muss (mehr zur Idee eines Kita-Fonds hier). Auf diese Weise, so Sell, könne die Kita-Finanzierung endlich vom Kopf auf die Füße gestellt und der gordische Knoten unterschiedlicher Zuständigkeiten in der Kinderbetreuung durchschlagen werden.

Vorschläge und Ideen, wie die Qualität von Krippen und Kindergärten deutlich verbessert werden könnte, gibt es also genug. Familien- und Bildungspolitiker müssen sich nur endlich daran wagen. Eltern werden es ihnen danken.

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Dieser Artikel bildet den Abschluss des Themenstrangs "Kitas und Schulen" unserer Agenda 2017. Angesichts der Vielzahl von Ideen, die Leser via Mail, Facebook, Twitter oder in der Online-Debatte vorgeschlagen haben, konnten wir nicht alle in diesem Text aufgreifen. Er soll ohnehin eine Anregung zum Weiterdiskutieren sein: Debattieren Sie in den Kommentaren, via Twitter oder in unserer Facebook-Gruppe oder mailen Sie uns. Wer sich noch weiter in das Thema einlesen will, findet hier eine Materialsammlung zur Bildungs- und Familienpolitik.

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