Afroamerikaner nach Tod von Trayvon Martin:"Schwarze Teenager wirken bedrohlich"

Der Tod des Teenagers Trayvon Martin lässt Amerika keine Ruhe und schockiert besonders schwarze Eltern. Sie fragen sich, wie sie ihren Kindern die rassistischen Vorurteile der amerikanischen Gesellschaft erklären sollen. Die Autorin Donna Britt spricht über ein Ritual namens "The Talk", den Rassismus in den USA - und wie der Tod ihres Bruders durch zwei Polizeikugeln ihr Leben prägt.

Matthias Kolb, Washington

Seit der schwarze Teenager Trayvon Martin Ende Februar in Florida von einem Mitglied einer freiwilligen Bürgerwehr getötet wurde, diskutiert Amerika über Rassismus im Alltag. Mehrere afroamerikanische Journalisten haben davon berichtet, welch große Ohnmacht sie als Väter oder Mütter spüren, wenn sich ihre jugendlichen Söhne nicht in ihrer Nähe befinden. Dabei geht es um ein Ritual namens "The Talk", das weißen Eltern völlig unbekannt ist. Die farbige Journalistin Donna Britt, die lange für die Washington Post tätig war, hat in ihrem Buch "Brothers (& Me)" beschrieben, wie der Tod ihres Bruders durch zwei Polizeikugeln ihr Leben verändert und wie sie ihre drei Söhne erzogen hat, damit diese nicht in Situationen geraten, die für sie gefährlich sind.

Afroamerikaner nach Tod von Trayvon Martin: Seit dem Tod von Trayvon Martin sind in den USA Tausende auf die Straße gegangen, um für Gerechtigkeit zu demonstrieren.

Seit dem Tod von Trayvon Martin sind in den USA Tausende auf die Straße gegangen, um für Gerechtigkeit zu demonstrieren.

(Foto: AP)

Süddeutsche.de: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie hörten, dass ein 17-jähriger Schwarzer in Sanford erschossen wurde, obwohl er nur eine Flasche Eistee und Skittles bei sich hatte?

Donna Britt: Wie alle anderen war ich zunächst völlig schockiert, doch kurz darauf habe ich versucht, nicht mehr an diese Tragödie zu denken. Die Berichte haben alte Wunden in mir aufgerissen, da mein Bruder auf ähnliche Weise ums Leben gekommen ist. Als schwarze Mutter von drei Söhnen hat mir der Fall bewusst gemacht, welchem Risiko sie ausgesetzt sind: Ihr Leben ist in Gefahr, selbst wenn sie sich nichts zu Schulden kommen lassen und wir sie gut erzogen haben.

Süddeutsche.de: Haben Sie mit Ihren Söhnen über solche Situationen gesprochen?

Britt: Natürlich! Es gibt unter afroamerikanischen Eltern ein Ritual, das alle 'The Talk' nennen. Darunter verstehen wir jene Gespräche, die wir mit unseren Kindern führen, wenn sie elf oder zwölf Jahre alt sind. Es ist eine Mischung aus Erklärung und Warnung, die sie auf das vorbereiten soll, was sie da draußen in der Realität erwartet.

Süddeutsche.de: Womit werden die Jungs denn auf den Straßen konfrontiert?

Britt: Für manche Außenstehende sind sie plötzlich keine niedlichen Kinder mehr, sondern Teenager, die gefährlich und bedrohlich erscheinen. Die meisten sind dies überhaupt nicht, aber schwarze Teenager müssen wissen, wie sie auf einige wirken.

Süddeutsche.de: Gibt es Regeln oder Tipps, die Ihre Söhne befolgen sollten?

Britt: Ich habe ihnen eingeschärft, stets höflich zu Polizisten und Behördenvertretern zu sein. Meine erwachsenen Söhne leben nun in Los Angeles und sie haben mir oft erzählt, dass sie Blut und Wasser geschwitzt haben, wenn sie mit einem weißen Freund im Auto unterwegs waren und dieser den Beamten bei einer Verkehrskontrolle frech angeredet hat. Eine weitere Regel lautet: Keine schnelle Bewegungen und nicht durch die Straßen rennen. Meinem jüngsten Sohn fällt das schwer, denn er ist begeisterter Leichtathlet. Aber mit 16 Jahren ist er alt genug, um dies zu verstehen.

Süddeutsche.de: Werden Sie Ihren jüngsten Sohn bitten, keine Kapuzenpullis mehr anzuziehen?

Britt: Nein, das werde ich nicht tun. Wie alle Kids in seinem Alter hat er mehrere in seinem Schrank liegen und die soll er weiterhin tragen. Ich halte das Argument für wenig überzeugend, dass Trayvon nur deshalb erschossen wurde, weil er einen "Hoodie" trug. Ich denke, dass George Zimmerman, jenes Mitglied der freiwilligen Bürgerwehr, ihn auch für verdächtig gehalten und verfolgt hätte, wenn er etwas anders angehabt hätte.

"Jeder ist verwirrt und wütend"

Süddeutsche.de: Der Tod von Trayvon Martin beschäftigt Sie nicht nur als dreifache Mutter, sondern erinnert Sie auch an den Tod Ihres Bruders Darrell. Was ist damals geschehen?

Donna Britt

Autorin Donna Britt: "Auf Facebook sprechen noch immer fast alle über Trayvons Tod und die Konsequenzen, egal ob sie weiß oder schwarz oder Asiate sind. Jeder ist verwirrt und wütend."

Britt: Darrell wurde 1977 von zwei weißen Polizisten in meiner Heimatstadt Gary in Indiana, erschossen. Eine Kugel traf ihn in die Brust, die andere in den Oberschenkel. Darrell war mein Lieblingsbruder, und die Umstände seines Todes passten überhaupt nicht zu dem Bild, das ich von ihm hatte. Er war der Held meiner Kindheit, ein großes Vorbild.

Süddeutsche.de: Was soll denn an diesem Abend passiert sein?

Britt: Im Polizeibericht stand, dass Darrell die beiden Cops barfuß mit einem Plastikball, einer Kette und einem Kochtopf auf dem Kopf angegriffen haben soll. Die Autopsie ergab jedoch, dass er weder Drogen noch Alkohol im Blut hatte. Warum hätte er auf die bewaffneten Polizisten losgehen sollen - und mit diesen Utensilien? Er war 26 Jahre alt und so ein talentierter, höflicher und lustiger Mensch. Dass die Beamten später wegen anderer Vergehen entlassen wurden, hat nichts daran geändert, dass mich Darrells Tod bis heute beschäftigt. Ich hatte lange Schuldgefühle, dass ich ihn nicht habe beschützen können. Es hat mich damals schockiert und bestürzt mich noch immer, dass Außenstehende seinen Charakter nicht erkennen konnten - und dass sich niemand für die Tragödie interessierte.

Süddeutsche.de: Die Umstände von Trayvon Martins Tod beschäftigen Amerika allerdings seit Wochen und viele warten gespannt auf den 10. April, wenn Zimmerman vor Gericht erscheinen soll.

Britt: Die öffentliche Anteilnahme ist riesengroß. Trotz ihrer Schmerzen und der Unsicherheit, was zum Tod ihres Sohnes führte, hilft es Trayvons Eltern sicherlich, zu sehen, wie viele Menschen solidarisch sind. Ich meine nicht nur die Demonstranten oder die Aktion der Basketballer der Miami Heat (Anm. d. Red: Das Lieblingsteam von Trayvon Martin ließ sich in Kapuzenpullis fotografieren): Auf Facebook sprechen noch immer fast alle über Trayvons Tod und die Konsequenzen, egal ob sie weiß oder schwarz oder asiatisch-stämmig sind. Jeder ist verwirrt und wütend.

Süddeutsche.de: Sie sind für Ihre Arbeit als Journalistin mehrfach ausgezeichnet worden und waren für den Pulitzer-Preis nominiert. Wie beurteilen Sie die Berichterstattung der Medien?

Britt: Die Kollegen haben gut gearbeitet. Es hat zwar zwei Wochen gedauert, bis die landesweiten TV-Sender und Zeitungen den Fall aufgegriffen haben, doch danach wurde ausführlich, ausgewogen und zurückhaltend berichtet. Ich finde es ermutigend, dass nun über das umstrittene Stand-Your-Ground-Gesetz, das dem Schützen womöglich Straffreiheit gibt, diskutiert wird und auch die Sorgen afroamerikanischer Eltern und Phänomene wie "The Talk" thematisiert werden.

Süddeutsche.de: Präsident Barack Obama hat den Eltern sein Mitgefühl ausgesprochen und ist dafür von Republikanern wie Newt Gingrich und Rick Santorum scharf kritisiert worden. Hat es Sie überrascht, dass der Tod eines Teenagers im politischen Wettstreit genutzt wird?

Britt: Nein, überhaupt nicht. In diesem Wahlkampf verwundert mich nichts mehr. Mir scheint, es gibt nichts, was Obama sagen kann, ohne dass er dafür von seinen politischen Gegnern attackiert wird. Es ist wirklich traurig, aber so läuft amerikanische Politik nun mal ab.

Süddeutsche.de: Das klingt nicht so, als könnte die Tragödie von Sanford und die öffentliche Empörung dazu beitragen, dass Amerika toleranter wird und Vorurteile abgebaut werden.

Britt: Ich bin vorsichtig optimistisch. In den letzten Jahrzehnten hat sich in der amerikanischen Gesellschaft viel verbessert, und zwar nicht nur an der Oberfläche. Aber mit Rassismus ist es ähnlich wie mit Sexismus: Die Vorurteile schwirren durch die Luft und werden von den Menschen aufgenommen. Um dies zu ändern, braucht es viel Zeit, Liebe und Toleranz. Ein einzelnes Ereignis wie die Wahl von Barack Obama zum Präsidenten reicht nicht aus. Die Behörden müssen nun aufklären, wie Trayvon Martin gestorben ist, damit ein solcher Fall hoffentlich nicht mehr vorkommt.

Linktipp: In einem sehr persönlichen Essay für die Washington Post hat Donna Britt beschrieben, welche Gefühle und Erinnerungen der Tod von Trayvon Martin in ihr ausgelöst hat.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: