Afrikanische Migranten in Spanien:Dem besseren Leben auf den Fersen

Flüchtlinge in Spanien - Hilfe für die Papierlosen

Die Organisation Karibu unterstützt Afrikaner aus der Subsahara-Region.

Der 21-jährige Clément aus Kamerun hat es über den Zaun in die spanische Exklave Melilla in Nordafrika geschafft und sich bis nach Madrid durchgeschlagen. Bei einem Streifzug erklärt der "Papierlose", dass er gar nicht von Europa geträumt hatte. Trotzdem setzte er für die Einreise sein Leben aufs Spiel.

Von Katarina Lukač, Madrid

Clément Nkhongo* hat 99 Probleme, wie es in einem Rapsong heißt, aber ein Mangel an Zutrauen gehört nicht dazu. An einem Metro-Ausgang im gutbürgerlichen Justizviertel in Madrid fragt der 21-Jährige eine Gruppe lärmender Heranwachsender nach einer Adresse, während seine deutsche Begleitung unnütz auf ihrem Handy herumtippt. "Ich rede immer direkt mit den Leuten", sagt Clément und läuft voraus. Er ist auf der Suche nach einer Arztpraxis in der Nähe, die ihn aufnehmen wird, obwohl er weder Versichertenkarte noch einen anderen Ausweis hat. Clément ist einer von etwa 500.000 Einwanderern, die sich nach Schätzungen von Red Acoge, einem Verband aus 17 Flüchtlingsorganisationen, unerlaubt in Spanien aufhalten. Das macht ihn nicht nur in den Augen vieler Bürokraten zu einem "Illegalen".

Auf der Skala der Unerwünschten rangiert Clément ganz oben: Er hat seine Heimat nicht als politisch Verfolgter verlassen, sondern ist ein so genannter Wirtschaftsflüchtling. In Spanien konkurriert er mit Zehntausenden Lateinamerikanern um ein Auskommen, deren Muttersprache Spanisch und deren Haut - wie die der marokkanischen Migranten - heller ist als seine. Hinzu kommen die Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten, von denen allerdings die wenigsten Asyl in Spanien beantragen, 2013 waren es etwa 4500 und damit nur ein Prozent der EU-weit gestellten Anträge. Für die meisten ist Spanien mit seiner Arbeitslosenquote von derzeit 24 Prozent höchstens eine Durchgangsstation.

Nicht so für viele der hier gestrandeten "Subsaharianos", wie in Spanien die Bewohner des südlich der Sahara gelegenen und im Vergleich zu Nordafrika weniger entwickelten Teils des Kontinents heißen. In Deutschland würden den etwa 1,70 Meter großen, drahtigen Clément viele noch heute kolonialistisch als "Schwarzafrikaner" bezeichnen. An diesem Novembervormittag ist er vor allem ein stark verschnupfter junger Mann auf der Suche nach einem Medikament, das ihn wieder atmen lässt.

Dem Arzt, den er schließlich ausfindig macht, muss Clément das einzige Dokument vorweisen, das er besitzt: den Mitgliedsausweis der Organisation Karibu, die sich um derzeit mehr als 5000 Einwanderer aus der Subsahara-Region kümmert und unter anderem diese Arztpraxis in Madrid betreibt. Sie liegt keine fünf Gehminuten von der Zentrale der konservativen Regierungspartei entfernt, die 2012 im Rahmen eines Sparpakets alle "Papierlosen" vom gesetzlichen Gesundheitswesen ausschloss. Clément spült das Grippemittel mit einem Becher Wasser hinunter und steckt den Rest in seinen Nylonturnbeutel, der an seinem Rücken baumelt, wie bei derzeit allen angesagten Jugendlichen von Berlin bis Brooklyn. Er hofft, mit Hilfe der Tabletten nachts endlich wieder ein Auge zumachen zu können. Was im überfüllten Schlafsaal seines Obdachlosenheims auch ohne Atemnot schwierig genug ist.

Clément ist erst seit zweieinhalb Wochen in der Stadt, bahnt sich aber souverän seinen Weg durch das Labyrinth der Madrider Metro. Er hat schnell gelernt, seit er am Tag seiner Ankunft den halben Tag durch den Untergrund irrte und zwölf der dreißig Euro, die er von einer Hilfsorganisation bekommen hatte, für Einzelfahrkarten ausgab, erinnert er sich kopfschüttelnd. Nach ein paar Nächten in Haus- und Metroeingängen ergatterte Clément einen Platz in einer Obdachlosenunterkunft der Caritas am Stadtrand. Diese Woche hat er mittags Küchendienst, zu dem will er - Arztbesuch hin oder her - nicht zu spät kommen.

Spanisch-Kurs für Fortgeschrittene

Pünktlich saß Clément am frühen Morgen auch in seinem Spanisch-Sprachkurs für Fortgeschrittene, den Karibu im Parterre eines Wohnblocks in einem Arbeiterviertel im Osten der Stadt anbietet. Sein Lehrer schickte den niesenden Klassenbesten zum Arzt. Als Clément in Madrid ankam, lebte er schon seit mehreren Monaten in Spanien und hatte in dieser Zeit hauptsächlich "Integration" betrieben wie er es nennt, also einen Sprachkurs nach dem anderen besucht. Spanisch ist seine vierte Sprache neben seiner Muttersprache Französisch, der zweiten Landessprache Englisch und der Volkssprache in Kameruns Küstenregion, aus der Clément stammt.

Seine ersten spanischen Sätze lernte er, als er 54 Tage im Auffanglager in Tarifa im Süden Spaniens festsaß. Da Clément keinen Ausweis vorzuweisen hatte - er hatte auch in Kamerun noch nie einen besessen - und sich über seine Herkunft ausschwieg, ließen die Behörden ihn laufen. Der unerlaubte Aufenthalt ist nach spanischem Recht, anders als in Deutschland, keine Straftat, sondern eine Ordnungswidrigkeit. Einwanderer dürfen in den Auffanglagern maximal 60 Tage festgehalten werden. Im Gegensatz zu ihren Kollegen aus den nördlicheren EU-Staaten können die spanischen Behörden Clément nicht unter Berufung auf das Dublin-Verfahren auf einen EU-Nachbarn abwälzen - denn eingereist war er über Spanien.

Drei Monate lang hatte Clément in den Wäldern vor Nador, der marokkanischen Stadt oberhalb der spanischen Exklave Melilla, seinen Mut zusammengenommen. "Das Schlimmste war, sich die ganze Zeit nicht waschen zu können." Er besorgte sich dicke Handschuhe und Stiefel und schaffte es unverletzt über die vier gestaffelten, bis zu sechs Meter hohen und mit Klingendraht aufgerüsteten Zäune: "Ich bin weiter, immer weiter und habe nur nach vorne gesehen, während ich um mich herum die Verletzten schreien hörte", sagt Clément. Als er in einer Traube aus gut Hundert weiteren Afrikanern in die Stadt und dem Roten Kreuz in die Arme rannte, endlich Freude. "Das hat aber nicht lange angehalten", so Clément nüchtern.

Ein Haus mit Stromanschluss für die Oma

So riskant das Überwinden des Zauns war, für Clément stellte es nur eine Etappe von vielen auf seinem Weg dar, der vor knapp zwei Jahren in Kamerun begonnen hatte. Clément wuchs bei seiner Großmutter auf, hatte ein schwieriges Verhältnis zu seinen Eltern. Trotzdem legte die ganze Familie einschließlich Onkel und Tante zusammen, damit er eine weiterführende Schule besuchen konnte - in einem Land, in dem die Analphabetenrate bei über 25 Prozent liegt. Als das Geld nicht mehr für den Abschluss reichte und Clément mit "Business" - dem Handel mit Handys oder Turnschuhen - nicht weiterkam, beschloss er, "nicht länger Zeit zu verlieren". Heimlich, damit seine Großmutter es ihm nicht wieder ausredete, machte er sich von Kameruns Küstenmetropole Douala ins Nachbarland Tschad auf, weiter nach Nigeria, und schließlich über Niger nach Algerien, wo er vier Monate auf dem Bau arbeitete. "Meine Hände sahen früher nicht so aus", sagt er und zeigt seine rauen Handflächen. "Ich war zufrieden und hatte ein wenig Ruhe".

Europa habe ihn nie interessiert, sagt Clément. Arbeit zu finden schon. In Algerien rief ihn ab und zu ein ehemaliger Kollege vom Bau zum Plaudern auf dem Handy an, zuerst aus Marokko und später aus Spanien. Als Clément seinen Job dort wieder los war - "man braucht einen guten Patron" - erinnerte Clément sich an den Bekannten, zu dem der Kontakt inzwischen abgebrochen war. Wie zuvor reichte ihm Hörensagen, um sich alleine auf den Weg zu machen, diesmal nach Marokko. Erst dort fiel seine Entscheidung, es mit Europa zu versuchen.

Zuerst übers Meer, in mehreren Anläufen mit Gummibooten, die er mit Gleichgesinnten im Supermarkt kaufte. Bis Clément beim dritten Versuch von der marokkanischen Küstenwache aus dem sinkenden Boot gerettet wurde: "Ich sah zu den Sternen auf und bat Gott um Hilfe." In seiner Heimat hätte er, der Nichtschwimmer, sich nie mit so einer Schüssel aufs Wasser gewagt. Nachdem die Polizei ihn an der Grenze zu Algerien absetzte, nahm er den Zaun ins Visier, landete in Melilla und wurde später von den spanischen Behörden in ein zweites Auffanglager aufs Festland geflogen.

Für Antonio Díaz ist Cléments Geschichte typisch. Der 65-jährige Priester gründete die Organisation Karibu, was "Willkommen" auf Suaheli heißt, 1987 nach einem langen Aufenthalt in Zentralafrika. Entgegen unserer Vorstellung hätten es die wenigsten Einwanderer aus der Subsahara-Region, die wir im Fernsehen sehen, auf ein Leben in Madrid oder Berlin abgesehen. "Viele wissen gar nicht, dass Madrid existiert", sagt Díaz, den alle nur Padre Antonio nennen, in seinem Büro vor einer Tapete mit Palmenstrand. "Ganz zu schweigen von Arbeitslosenzahlen oder Einwanderungsgesetzen einzelner Staaten." Politische Debatten um eine weitere Verschärfung des Einwanderungsrechts, die abschreckende Wirkung entfalten soll, hält er deshalb für Augenwischerei. Der Wunsch nach einem besseren Leben lasse sich nicht ausmerzen.

Clément hat mitbekommen, wie schwierig man in Spanien selbst an Tagelöhnerjobs herankommt. Den Straßenhandel mit gefälschten Handtaschen oder Raubkopien machen größtenteils Senegalesen unter sich aus. Ein Betrunkener hat Clément einmal auf der Straße beschimpft, Leute wie er nähmen den Spaniern die Arbeit weg. "Dabei hat er im Vergleich zu einem wie mir doch so einen großen Vorsprung", sagt Clément.

Aus dem Madrider Obdachlosenheim muss er in wenigen Wochen raus. Wie es dann weitergeht, weißt er noch nicht. Hat er woanders in Europa Bekannte? "Ich bin doch gerade erst angekommen", sagt er verwirrt. Nur ein Entschluss steht fest: Clément will nicht nach Hause zurück, bevor er seiner Großmutter ein anständiges Heim mit Stromanschluss bezahlen kann. Auch dem Rest der Familie will er aushelfen, die Probleme aus der Vergangenheit spielen jetzt keine Rolle mehr.

Am liebsten würde Clément als Schweißer arbeiten. Padre Antonio vermittelt Ausbildungsplätze, von denen die meisten jedoch von der EU unterstützt werden und bei den Teilnehmern ordentliche Papiere voraussetzen. Einen Funken Hoffnung gibt es: Theoretisch besteht in Spanien, wo die Ausländerbehörde einen geringeren Zugriff auf kommunale Daten hat, für Papierlose die Möglichkeit, sich beim Einwohnermeldeamt anzumelden und nach drei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Sofern sie dann - und hier erlischt der Funken Hoffnung in der Regel - unter anderem einen einjährigen Arbeitsvertrag vorlegen können und in der Zwischenzeit nicht abgeschoben werden. Ein linker Abgeordneter verurteilte vor wenigen Wochen im Parlament in Madrid die Polizei dafür, vor dem Start von Linienflügen nach Afrika willkürlich Großrazzien und Massenverhaftungen durchführen, um die Maschinen im letzten Moment aufzufüllen.

Party-Musik von 50 Cent und Booba

Clément wird nach dem Mittagessen im Obdachlosenheim wie jeden Nachmittag durch die Straßen ziehen und grübeln, wie er seine Geburtsurkunde auftreiben soll, um bei der Botschaft seinen ersten Pass zu beantragen. Clément textet seit ein paar Jahren Rap-Lieder, seit seiner Ankunft in Madrid ist ihm aber nichts Neues eingefallen. Er steht auf fröhlichen, unpolitischen Hip-Hop, Party-Musik von 50 Cent oder dem Franzosen Booba. "Im Moment bin ich nicht in der richtigen Stimmung", sagt Clément.

Er würde gerne Fußball trainieren, oder zumindest joggen gehen. Weil Clément im Heim morgens nur ein kurzes Zeitfenster zum Duschen hat und die Tore vorher verschlossen bleiben, lässt er es bleiben, um nicht verschwitzt zum Unterricht zu gehen.

Nachdem Clément aus dem Internierungslager in Tarifa im Süden freigekommen war, nahm ihn eine Hilfsorganisation nach Santander im Norden Spaniens mit. Nach einigen Trainingsspielen habe eine örtliche Mannschaft Interesse an ihm gezeigt, die Sache sei an seinen fehlenden Papieren gescheitert. Die Turnschuhe ließ er zurück.

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360° - Geschichten und Hintergründe, die im Nachrichtenalltag oft untergehen.

  • Fünftausend Kilometer Angst

    "Syrer? Papiere? Mitkommen!" Vier Wochen lang sind Sadik und Edis auf der Flucht. Im Gepäck ein Glas Honig gegen Heimweh - und Angst vor Assads Schergen. Die Brüder wollen nach Deutschland. Mit dem Zug. Doch plötzlich stehen Polizisten vor Edis. Sadik rührt sich nicht.

*Name von der Redaktion geändert.

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