Afrikanische Flüchtlinge und Europa:Lehren aus Lampedusa

Flüchtlinge auf Lampedusa

Je stärker die Kontrollen sind, desto gefährlicher wird die Überfahrt über das Mittelmeer für die Flüchtlinge.

(Foto: dpa)

Wer vom Auswandern träumt, mag die Zumutungen in seiner Heimat nicht mehr ertragen. Dieses Gefühl war einst auch in Deutschland verbreitet. Heute schotten sich die Europäer ab, doch das ausgeklügelte Abwehrsystem erhöht nur die Risiken für die Afrikaner. Wenn uns deren Leben mehr wert ist als der Preis eines Leichensackes, dann müssen wir die Festung ein Stück weit öffnen.

Ein Kommentar von Stefan Klein

Sie ist so alt wie die Welt, die Sehnsucht nach dem besseren Leben. In Edgar Reitz' neuestem Kinowerk ist es Jakob Simon, der diese Sehnsucht in sich trägt. Der Junge aus dem Hunsrück träumt von einem besseren Leben in Brasilien. In Afrika hieße so einer vielleicht Mamadou Touré, er wäre Malier, er lebte in einem armen Dorf des Nigerbogens, und er träumte von einem besseren Leben in Europa. Filmstoff wäre auch dies, er ließe sich als ein Stück spannende afrikanische Gegenwartsgeschichte erzählen.

Am Anfang wäre eine Entscheidung. Von den acht Geschwistern ist Mamadou der Hellste, der Pfiffigste, der Stärkste, ihm traut die Familie die todgefährliche Reise zu. Um das Geld für den Schleuser aufzubringen, verkaufen die Eltern einen Teil ihrer Rinderherde. Die Reise führt durch die Wüste, und sie führt über das Meer. Das Boot ist klein, es ist übervoll, der Diesel reicht nicht aus, der Kompass geht kaputt, hilflos treiben die Afrikaner auf dem Meer, es ist alles angerichtet für eine Tragödie von der Art, wie sie sich gerade vor Lampedusa ereignet hat.

Es sind die Starken, die kommen

Aber lassen wir Mamadou Glück haben. Wenn es denn Glück ist, in einem miesen Lager am Südrand Europas zu landen und es von dort irgendwann nach Bordeaux zu schaffen und dann nach Frankfurt. Da verkauft er auf der Straße gefälschte Designer-Sonnenbrillen, in ständiger Angst vor der Polizei, denn er ist ein Illegaler, ein Stück Treibgut, das jederzeit zurückverfrachtet werden kann nach Afrika. Alle paar Wochen schickt er Geld nach Hause, und in dem kleinen armen Dorf im Nigerbogen ist die Familie Touré stolz auf ihren tüchtigen Sohn.

Afrikanische Flüchtlinge und Europa: Diese Frauen aus Mali leben in einem Flüchtlingslager in Burkina Faso.

Diese Frauen aus Mali leben in einem Flüchtlingslager in Burkina Faso.

(Foto: AFP)

Es gibt viele Familien in Afrika, die in diesen Zeiten solche Entscheidungen treffen, und für den Kontinent ist das ein Unglück. In Europa mögen die Menschen glauben, es seien die Ärmsten und die Elendesten, die sich auf den Weg von Afrika zu ihnen machen, weit gefehlt. Es sind die Starken, die Mutigen und die Strapazierfähigen, die kommen, es ist der Nachwuchs, den Afrikas Gesellschaften so dringend bräuchten, um voranzukommen auf dem Weg in eine bessere Zukunft.

Aber es sind natürlich auch die Unbequemen und die Rebellischen, und die sehen Afrikas Herrschende nur zu gerne ziehen. Machterhalt ist Diktators Sinnen und Trachten, was schert ihn das Ausbluten der Gesellschaft. Und es ist genau diese Ignoranz, die dafür sorgt, dass die Mamadous nicht weniger werden.

Wer vom Auswandern träumt, lebt im Unfrieden mit seiner Heimat, er mag die Zumutungen nicht mehr ertragen. Das kannte man einst auch in Deutschland, aber heute ist Afrika der weltweit führende Produzent von Zumutungen. Kriege und Misswirtschaft und als Folge davon Armut und Elend machen aus Sesshaften Wanderer. Aber wer als Ziel Europa hat, der hat es heute mit einem Bollwerk zu tun, einer Festung ohne Eingang, allenfalls mit winzigen Schlupflöchern.

Legale Einwanderung muss möglich sein

Die Reichen haben sich zwecks Wahrung ihres Wohlstands abgeschottet gegenüber den Armen, aber hält das ganze ausgeklügelte Abwehrsystem die auswanderungswilligen Afrikaner ab? Nein, tut es nicht, aber es erhöht die Risiken ihrer Reise, und zwar drastisch.

Je besser die Kontrollen, je effizienter die Abfangaktionen, desto größer der Zwang, auf immer gefährlichere Routen auszuweichen. Mehr Patrouillen im Mittelmeer bedeuten kleinere, kaum seetüchtige Flüchtlingsboote. Den Schleusern spielt das alles in die Hände: Sie lassen sich die Schwierigkeiten von den Migranten mit immer noch mehr Dollar bezahlen. Für die Migranten selber aber bedeutet dies ein Vabanquespiel mit ihrem Leben. Es bedeutet die sehr konkrete Gefahr, nicht lebend in Europa anzukommen, sondern als Wasserleiche an die Strände von Malta gespült oder vor Lampedusa tot aus dem Meer gefischt zu werden.

Eine menschliche Antwort auf die Flüchtlingsproblematik

Dann stehen da plötzlich Särge in einer Halle, Dutzende, in der abgeschotteten Festung sieht man sie im Fernsehen, und plötzlich ist das Entsetzen groß. Aber aus dem Entsetzen wird schnell wieder kleinliches Gezänk um Zahlen und Quoten, und von den Politikern hat keiner den Mut zu sagen, dass es nur einen Weg gibt, den Schleusern das Handwerk zu legen und das Sterben auf dem Mittelmeer (oder schon vorher in der Wüste) zu beenden - nämlich legale und gefahrenfreie Einreisemöglichkeiten nach Europa zu schaffen.

Das müsste die menschliche Antwort sein auf die Katastrophe von Lampedusa. Aber man hört sie schon, die Bedenkenträger, die der Meinung sind, das würde eine schwarze Menschenwelle auslösen, und Europa würde darin untergehen.

Mit der Wirklichkeit haben solche Albträume nichts zu tun. Afrika, es ist wahr, ist der Kontinent der Flüchtlinge, es sind 17 Millionen. Aber wer dort flüchtet, der tut dies meistens innerhalb seines Landes oder in der Region, nur die wenigsten machen sich auf in Länder außerhalb Afrikas. Allein in Südafrika sollen sich sieben Millionen Illegale angesiedelt haben, viele davon aus dem Nachbarland Simbabwe. Südafrika hat 50 Millionen Einwohner, aber das Land beherbergt mehr afrikanische Flüchtlinge als die gesamte EU, die 500 Millionen Einwohner zählt.

Die Armen sind solidarisch, die Reichen verbarrikadieren sich

In Südafrika hat das fremdenfeindliche Aufwallungen zur Folge gehabt, aber normalerweise nehmen es Afrikas Bevölkerungen geduldig hin, wenn Konflikte im Nachbarland Flüchtlingsmassen über die Grenze in ihre Heimat treiben. Als Krieg war in Äthiopien, da flohen Hunderttausende in den Sudan, wo die Menschen selber nichts haben und wo man Grund gehabt hätte, sich zu verbarrikadieren und sich die Konkurrenz im Kampf um Lebensmittel und Brennholz vom Leib zu halten.

Doch die Habenichtse waren solidarisch mit den Habenichtsen. Im reichen Europa könnte man sich daran ein Beispiel nehmen, stattdessen hat man dort die Begriffe "Abschiebung", "Rückübernahmeabkommen" oder "Wirtschaftsflüchtling" erfunden.

Es ist die Sprache der Herzlosigkeit, und die legt fest, dass ein Mamadou Touré genau dies ist, ein Wirtschaftsflüchtling. Er hat keine politische Verfolgung erlitten, man hat ihn nicht diskriminiert, er hat nur das Pech gehabt, arm geboren worden zu sein. Und er hat, nachdem das Fernsehen die Bilder von einem glitzernden und funkelnden Europa in sein Dorf brachte, irgendwann nicht mehr eingesehen, warum das so sein soll - dass in der einen Hälfte der Welt die Reichen immer reich und in der anderen die Armen immer arm sein sollen.

Ein Einlassticket für Europa erhält man mit dieser Geschichte nicht. Doch die Mamadous kommen trotzdem. Und wenn ihr Leben mehr wert sein soll als den Preis eines Leichensacks, dann wird man die Festung Europa ein Stück weit öffnen müssen.

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