Ein Gamechanger sei das, eine grundlegend neue Spielregel - so freute man sich bei dem südafrikanischen Pharmakonzern Aspen, als dieser im vergangenen Dezember eine Lizenz mit dem Pharmariesen Johnson & Johnson vereinbarte: Dessen Corona-Impfstoff sollten die Südafrikaner bald für ganz Afrika abfüllen und unter dem eigenen Namen Aspenovax vertreiben dürfen. Ein großer Schritt für die weltweite Impfgerechtigkeit, befanden auch Gesundheitsexperten.
Nur wenige Monate später hat Aspen nun mit einer Warnung überrascht: Man fürchtet, die Produktion des Impfstoffes in Südafrika beenden zu müssen. Es gebe schlicht keine Nachfrage dafür.
Seit Wochen sei keine einzige Bestellung eingegangen, sagte John Nkengasong, Chef der Africa Centres for Disease Control and Prevention bei der Afrikanischen Union. "Das Risiko ist sehr, sehr hoch, dass das Unternehmen die Produktion der Impfstoffe von Johnson & Johnson tatsächlich einstellt", so der Virologe. "Wir können und dürfen nicht zulassen, dass das passiert."
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Die geringe Nachfrage sei zum einen damit zu erklären, dass reichere Länder mittlerweile mehr Impfstoffe spenden. Vor allem aber seien die Impfkampagnen in den afrikanischen Ländern fast zum Erliegen gekommen. Dabei sind etwa in der Demokratischen Republik Kongo gerade einmal 0,1 Prozent der etwa 80 Millionen Einwohner geimpft. Im Südsudan sind es keine fünf, in Tansania sechs Prozent. Während rund zwei Drittel der Industrienationen das weltweite Impfziel von aktuell 70 Prozent der Bevölkerung erreicht haben, sind auf dem afrikanischen Kontinent insgesamt weniger als 19 Prozent geimpft.
Das Impftempo müsste um das Neunfache steigen
Die Hoffnung auf schnelle Abhilfe ist gering. "Das Impftempo auf dem ganzen Kontinent müsste um das Neunfache gesteigert werden, wenn wir unser Ziel erreichen wollen, 70 Prozent der Bevölkerung bis Juni 2022 zu impfen", sagte Matshidiso Moeti, Regionaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Afrika.
Selbst in Südafrika stagniert die Impfquote bei rund 36 Prozent. "Das ist seit einigen Monaten fast unverändert", sagt Wolfgang Preiser, Professor für Virologie an der Universität Stellenbosch. Wie auch in anderen Teilen Afrikas habe es anfangs eine riesige Nachfrage nach Impfstoffen gegeben, aber nur sehr wenig Dosen. Damals füllte der Hersteller Aspen in Südafrika vor allem Dosen für Europa und die USA ab, nicht für das eigene Land. Als im vergangenen August bekannt wurde, dass Aspen zehn Millionen Dosen exportiert, während in Kapstadt und Johannesburg Mangel herrscht, war die Empörung groß.
"Jetzt gibt es genug, aber das Momentum ist verloren gegangen. Ich fürchte, dass wir am Limit sind, also schon alle erreicht haben, die sich impfen lassen wollen", sagt Preiser. Im Juni laufen in Südafrika Millionen Dosen Biontech ab, auch in anderen afrikanischen Ländern stapeln sich unbenutzte Dosen. Fast 40 Prozent der bisher an den Kontinent gelieferten Impfstoffdosen wurden nicht verwendet.
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Neben dem verpassten Zeitpunkt machen Experten den Pandemieverlauf verantwortlich: Viele Afrikaner sähen keine große Notwendigkeit zur Impfung mehr, weil es in ihrem Umfeld kaum Todesfälle oder schwere Erkrankungen gibt. Zu Pandemiebeginn wurde dem Kontinent das Schlimmste vorausgesagt - etwas mehr als zwei Jahre später weist Afrika aber die weltweit niedrigsten Todesraten auf. Die WHO weist für die 1,2 Milliarden Menschen lediglich 170 000 Tote aus, weniger als in Großbritannien.
Experten haben sich in den vergangenen Monaten an vielen Erklärungen für den vergleichsweise sanften Pandemieverlauf versucht. So wurde etwa über einen Einfluss des Klimas spekuliert oder über die viele Zeit, die Menschen an der frischen Luft verbringen. Auch Vorerkrankungen könnten eine Rolle spielen, hieß es. "Ich glaube nicht an eine afrikanische Einzigartigkeit", sagt hingegen Preiser. "Das Durchschnittsalter in Afrika beträgt 19 Jahre. Der Anteil der Älteren und damit deutlich stärker Gefährdeten an der Bevölkerung ist niedriger. Rechnet man das raus, glaube ich nicht an fundamentale Unterschiede."
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Zudem seien die niedrigen Todeszahlen auch damit zu erklären, dass in vielen afrikanischen Ländern eine verlässliche Datenbasis fehlt. Selbst in Südafrika, wo man davon ausgehen kann, dass jeder Todesfall zumindest registriert wird, gibt es nicht immer Informationen zur Todesursache. Die Regierung geht mittlerweile davon aus, dass zu den offiziell 100 000 gemeldeten Toten eine Übersterblichkeit von etwa 300 000 kommt.
Ähnlich könnte es in anderen afrikanischen Ländern aussehen. Nach einer bisher unveröffentlichten Untersuchung des südafrikanischen Epidemiologen Salim S. Abdool Karim finden sich auch in Sambia Anzeichen einer hohen Übersterblichkeit. "Die offiziell gemeldeten Covid-19-Todesfälle in Sambia belaufen sich auf nur 4000. Aber das Land hat in den ersten beiden Pandemiejahren mehr als 80 000 Todesfälle zu verzeichnen", sagt der Professor der Columbia-Universität in New York. "Das Verhältnis der überzähligen Todesfälle zur Bevölkerung ist in Sambia ähnlich hoch wie in Südafrika." PCR-Tests an Toten im Leichenschauhaus der Hauptstadt Lusaka zeigten, dass die offizielle Zahl der Covid-positiven Patienten viel zu niedrig ist.
Erst nach drei Covid-Kontakten - ob Erkrankung oder Impfung - ist der Schutz sehr gut
Wie ungenau die Daten sind, zeigt auch die Zahl der Infizierten. Nur 11,5 Millionen sollen es nach Angaben der Afrikanischen Union sein - weniger als halb so viele wie in Deutschland. Dagegen schätzt die WHO, dass etwa zwei Drittel der Afrikaner schon eine Infektion hinter sich haben - und damit auch besser vor einer erneuten Erkrankung geschützt sind. Muss man also überhaupt noch impfen? Eindeutig ja, sagt Stellenbosch-Virologe Preiser. Erst nach drei Kontakten mit Covid, ob durch Impfung oder Erkrankung, sei der Schutz vor tödlichen oder schweren Verläufen sehr gut.
Deshalb sollten die Impfziele für Afrika zwar nicht völlig aufgegeben, aber doch überarbeitet werden: Vor allem ältere und durch Vorerkrankung gefährdete Afrikaner müsse man erreichen. An Impfstoff mangelt es zwar nicht mehr, aber für die Impfquote seien auch Infrastruktur, Aufklärung und eine einheitliche Kommunikation der Regierung entscheidend. Viele Afrikaner nehmen Krankheiten wie Malaria oder Tuberkulose als bedrohlicher wahr und viele misstrauen den oft korrupten Eliten.
Die Corona-Pandemie ist erst dann zu Ende, wenn sie überall auf der Welt zu Ende ist. Das haben Experten aus aller Welt in den vergangenen zwei Jahren immer wieder gesagt. Sie warnen davor, dass eine große Anzahl Ungeimpfter auch zu neuen Virusmutanten führen könnte. Westliche Spender haben deshalb erneut fünf Milliarden Dosen für Impfungen in Afrika zur Verfügung gestellt.