Am Ende erhielt er das erhoffte Mandat. Eine Große Ratsversammlung hat in Afghanistan der Regierung von Präsident Aschraf Ghani am Sonntag die Erlaubnis erteilt, 400 als besonders gefährlich eingestufte Kämpfer der Taliban aus dem Gefängnis entlassen zu dürfen. Damit ist in den vergangenen Monaten mehr als 5000 Islamisten der Weg in die Freiheit geebnet worden - eine Vorbedingung der Aufständischen für Friedensgespräche mit der Regierung Ghani. "Der Ball ist nun im Spielfeld der Taliban", kommentierte Sediq Sediqqi, der Sprecher des Präsidenten, am Sonntag eine schriftliche Anfrage der Süddeutschen Zeitung. Innerhalb von zwei bis drei Tagen könnte nun der Termin für Friedensgespräche mit den Taliban bekannt gegeben werden, so Sediqqi, aber genaue Details nannte er noch nicht.
Der Nachrichtensender Tolonews veröffentlichte am Sonntag eine Liste der Regierung, wonach von den 400 Männern, die nun freikommen sollen, 156 aufgrund ihrer Verbrechen eigentlich zum Tode verurteilt waren, weitere 105 wegen eines Mordvorwurfs in Haft seien und 51 wegen Drogenschmuggels.

Friedensverhandlungen in Afghanistan:Ratsversammlung empfiehlt Freilassung von Taliban
400 als besonders gefährlich eingestufte Taliban könnten nun aus dem Gefängnis entlassen werden. Damit will die Loja Dschirga den Weg für Friedensgespräche ebnen.
Sediqqi bestätigte die Angaben. Ghani hatte die sogenannte Loja Dschirga einberufen. Fast 3500 Vertreter aus allen Bereichen der afghanischen Gesellschaft hatten darin seit Freitag über die geplanten Friedensgespräche mit den Taliban diskutiert. Die Teilnehmer der Ratsversammlung formulierten 25 Punkte für die Friedensgespräche. Neben der Freilassung der Gefangenen, die von der Regierung weiterhin überwacht werden müssten, fordern die Delegierten einen sofortigen und "lange anhaltenden" Waffenstillstand. Auch verlangten sie unter anderem, dass Frauen im Friedensprozess eine zentrale Rolle spielen müssten, zudem solle die afghanische Verfassung unbedingt erhalten bleiben und bei Bedarf ergänzt werden.
Ghani war rechtlich nicht verpflichtet, die Ratsversammlung einzuberufen, aber solche traditionellen Treffen mit Stammesälteren und anderen wichtigen Repräsentanten aus allen Teilen des Landes berufen afghanische Regierungen immer dann ein, wenn sie in großen gesellschaftlichen Fragen eine breite Mehrheit für ihre Politik hinter sich bringen wollen. Das Parlament spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Menschenrechtler befürchten, dass Kriegsverbrechen nun nicht mehr aufgearbeitet werden
Die Regierung ist aber auch nach dem Beschluss der Ratsversammlung unter Zeitdruck, seit die USA im Februar mit den Taliban ein bilaterales Abkommen geschlossen haben. Demnach sollen die westlichen Truppen bis Ende April nach fast 20 Jahren Krieg am Hindukusch das Land verlassen. Im Gegenzug sollen die Islamisten ihren Teil dazu beitragen, dass von Afghanistan nie wieder eine Terrorgefahr ausgeht. Sie haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten bewiesen, dass auch eine Supermacht wie die USA mit ihren Verbündeten sie nicht schlagen kann. Und in den vergangenen Monaten stellten sie ihr strategisches Verhandlungsgeschick unter Beweis. Dass die USA Ghani in ihren Gesprächen mit den Taliban nur haben zuschauen lassen, ist ein Vorteil für die Islamisten: Mit einer der Kriegsparteien haben sie einen Deal, der afghanische Präsident muss ihnen nun weit entgegenkommen.
Die USA und in ihrem Gefolge Dutzende Verbündete waren nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Afghanistan einmarschiert und hatten das Taliban-Regime innerhalb von Wochen gestürzt. Aufgrund zahlreicher strategischer Fehler und in Unkenntnis der lokalen Gegebenheiten hat der Westen mit seinen zeitweilig bis zu 150 000 Soldaten in Afghanistan es nicht geschafft, das Land zu stabilisieren.
Deshalb sollen die Taliban wieder an der Macht beteiligt werden. Wie das genau aussehen könnte, ist bislang noch völlig unklar. Viele Afghanen befürchten, dass die Islamisten den Abzug des Westens aussitzen und nach der ganzen Macht greifen werden. Besorgt nehmen sie zur Kenntnis, dass die US-Regierung ihre verbliebenen Truppen schon jetzt reduzieren. Verteidigungsminister Mark Esper kündigte am Samstag bei Fox News an, bis Ende November solle das am Hindukusch stationierte Kontingent von derzeit 8600 auf 5000 verkleinert werden.
Afghanische Menschenrechtler reagierten am Sonntag zurückhaltend auf das Ergebnis der Ratsversammlung. Das Treffen habe gezeigt, wie sehnsüchtig die Afghanen auf "einen Frieden oder wenigstens eine Waffenruhe" warteten, schrieb eine Kabuler Aktivistin auf Anfrage der SZ. "Aber niemand kann im Namen der Opfer vergeben", fügte sie an und bat aus Furcht vor Repressalien darum, namentlich nicht genannt zu werden. Aus ihrer Sicht besteht die große Gefahr, dass Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen nicht angemessen aufgearbeitet werden, um den Friedensprozess mit den Taliban nicht zu stören.