Krieg in Afghanistan:Die Afghanen - in die Arme der Taliban getrieben

Der Politologe Dietmar Herz hat mehrmals Afghanistan bereist - und ist wenig überrascht von den US-Geheimdokumenten. Deutschland ist jetzt mehr denn je gefordert.

Gökalp Babayigit

Dietmar Herz ist Staatssekretär im Thüringer Justizministerium. Von seinem Lehrstuhl für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Erfurt ist er derzeit wegen seiner Tätigkeit im Ministerium beurlaubt. Der Politologe Herz besuchte mehrmals Afghanistan und beschrieb unter anderem für das Magazin der Süddeutschen Zeitung seine Erfahrungen.

Angst vor Geiselnahmen am Hindukusch

Bundeswehrsoldaten begegnen in Qal-e-Sal, 30 Kilometer nordwestlich von Kundus, bei einer Patrouille einem Afghanen.

(Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Fast 92.000 US-Geheimdokumente aus dem Afghanistaneinsatz sind in die Öffentlichkeit geraten. Was sind für Sie die wichtigsten Erkenntnisse?

Dietmar Herz: Aus deutscher Sicht muss man sagen, dass die Bundeswehr in den Dokumenten eine untergeordnete Rolle spielt. Trotzdem muss das Bild unseres Afghanistaneinsatzes korrigiert werden. Er hatte schon sehr viel früher Kriegscharakter - schon zu einer Zeit, zu der wir das noch nicht wahrhaben wollten. Insgesamt gesehen kommen die zutagetretenden Fakten aber nicht wirklich überraschend.

sueddeutsche.de: Welche meinen Sie?

Herz: Über die Art der Amerikaner, Krieg zu führen, also jene Strategie der als Counter-Insurgency bezeichneten Bekämpfung der Aufständischen, gab es immer schon Vermutungen. Jetzt wird der Einsatz der geheimen Kommandos eben groß und breit dokumentiert. Das ist ein Schlag für die amerikanische Counter-Insurgency, keine Frage.

sueddeutsche.de: Die Probleme der Amerikaner, ihre Vorgehensweise zu rechtfertigen, werden also nicht kleiner.

Herz: Diese Dokumente sind für die amerikanische Öffentlichkeit weitaus brisanter als für uns - in abgeschwächter Form auch für die Briten. Aber ehrlich gesagt: Es ist nichts, was da wirklich überraschend kommt, oder? Nach allem, was man über Counter-Insurgency weiß, musste man damit rechnen, dass die geheimen Kommandos auf diese Weise geführt werden (also außerhalb der Nato-Strukturen, mit direkten Befehlen aus dem Pentagon; Anm. d. Red.). Nur jetzt, da die Strategie schwarz auf weiß nachzulesen ist, wird es auch justiziabel. Schließlich werden zwangsläufig die Fragen aufkommen, ob man mit dieser Strategie die Situation wirklich befrieden kann. Von einem Sieg redet ja schon keiner mehr.

sueddeutsche.de: Nach der Analyse des Materials wird klar, dass die Deutschen sich offensichtlich nicht an illegalen Aktionen beteiligt haben. Es entsteht aber der Eindruck, dass die Bundeswehr in manchen Dingen überfordert ist. Inwiefern ist sie gewappnet für diesen Einsatz?

Herz: Die Bundeswehr hat ja "mehrere" Afghanistaneinsätze in zeitlicher Abfolge durchgeführt. Am Anfang ging man von einer Stabilisierungsmission aus. Im Norden herrschte ein weitgehend stabiler Zustand. Hier sollte mit militärischer Absicherung Aufbauarbeit geleistet werden. Dann hat sich dies verändert und man ist zu einer aktiveren Rolle übergegangen. Es wurde deutlich, dass die Soldaten in manchen Regionen zunächst einmal jene sichere Lage herstellen mussten. Seit einiger Zeit spricht man nun davon, dass die Bundeswehr in einem kriegsähnlichen Zustand tätig ist.

sueddeutsche.de: Also eine kämpfende Bundeswehr, die sich regelmäßigen Angriffen erwehren muss.

Herz: Darauf ist Deutschland sicherlich nicht vorbereitet gewesen. Weder die Soldaten, die ja unter der Prämisse nach Afghanistan gegangen sind, dass sie an einer Stabilisierungsmission teilnehmen und dann gemerkt haben, dass das Land von einer Stabilität weit entfernt ist, dass die Lage sogar eher instabiler wird. Noch die Öffentlichkeit, die von alledem wenig mitbekommt.

Wieso eine Abzugsperspektive wichtig ist

sueddeutsche.de: Die deutsche Politik hat das Thema Afghanistan am liebsten immer totgeschwiegen. Ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem sie endlich offen die Probleme thematisieren muss?

Herz: Wir müssen jetzt endlich ernsthaft diskutieren: Was wollen wir in Afghanistan? Was können wir dafür tun? Was sind die Rahmenbedingungen des Einsatzes? Und unter welchen Bedingungen ziehen wir uns zurück? Diese Dinge wurden immer wieder mal am Rande angesprochen, allerdings blieben die Diskussionen vage. Ein Beispiel haben Sie erst vor wenigen Tagen gesehen: Bei der Afghanistan-Konferenz in Kabul wurde verkündet, bis 2014 solle der afghanische Staat selbst für seine Sicherheit sorgen. Das ist illusorisch. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in Afghanistan daran glaubt.

sueddeutsche.de: Aus den Geheimdienstinformationen wird ersichtlich, dass die Taliban im Norden vermehrt versuchen, die Bevölkerung für ihre Zwecke einzubinden. Geht der Kampf um die Gunst der Bevölkerung verloren, den die Deutschen vor allem durch Aufbauarbeit eigentlich gewinnen wollten?

Herz: Die berühmten Hearts and Minds, also die Köpfe und Herzen der Gesellschaft, scheinen gerade die Taliban zu gewinnen. Am Kriegshandbuch der Taliban, das ich gemeinsam mit einer Mitarbeiterin übersetzt habe, ist sehr interessant zu sehen, wie sie ihre Politik strukturieren möchten. Sie versuchen eine Parallel-Administration aufzubauen: eine Gerichtsbarkeit etwa und soziale Dienste, die gut funktionieren. Dann geben sie finanzielle Anreize, den verschiedenen Taliban-Gruppen beizutreten.

sueddeutsche.de: Und dem haben die Soldaten der internationalen Schutztruppe nichts entgegenzusetzen?

Herz: Wesentliche Teile der afghanischen Gesellschaft sind realistisch. Sie sagen: 'Der Westen wird sich irgendwann zurückziehen und ich muss dann mit den Taliban leben. Also arrangiere ich mich besser jetzt schon mit ihnen.' Den Taliban ist gelungen, die Nato-Präsenz als Besatzung des Landes darzustellen. Das war früher nicht so. Diese Interpretation hat sich erst durchsetzen müssen. Dies erklärt im Übrigen auch die gelegentlichen Versuche des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai, sich vom Westen zu distanzieren - etwa wenn er von den Taliban als seinen Brüdern redet, die zurück in die afghanische Familie müssen.

sueddeutsche.de: Also sollte der Westen von der Abzugsperspektive abrücken, um die Bürger nicht jetzt schon in die Arme der Taliban zu treiben?

Herz: Nein, eine Abzugsperspektive ist wichtig, um das Argument der Taliban zu entkräften, es handle sich um eine Besatzung. Allerdings muss die Abzugsperspektive mit klaren Bedingungen verknüpft sein. Man spricht immer davon, militärische und zivile Maßnahmen in ein Gleichgewicht zu bringen. Mindestens genauso wichtig sind aber diplomatische Maßnahmen: Man muss verhandeln in Afghanistan, darüber aber nicht außer Acht lassen, dass man militärisch in einer Position ist, diese Verhandlungen auch führen zu können. Wenn die Taliban der Meinung sind, dass sie diesen Krieg ohnehin gewinnen, dann werden sie nicht verhandeln.

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