Einsatz in Afghanistan:Ein Desaster in Akten

Einsatz in Afghanistan: Rückkehr aus Afghanistan: Bundeswehrsoldaten nach der Landung auf dem niedersächsischen Stützpunkt Wunstorf.

Rückkehr aus Afghanistan: Bundeswehrsoldaten nach der Landung auf dem niedersächsischen Stützpunkt Wunstorf.

(Foto: Daniel Reinhardt/picture alliance/dpa)

Wann ahnte die Bundesregierung, dass der Abzug aus Afghanistan im vergangenen Jahr in den Triumph der Taliban münden könne? Wohl ziemlich früh, wie Dokumente für den nun beginnenden Untersuchungsausschuss des Bundestags belegen.

Von Martin Kaul und Paul-Anton Krüger

Vier Fotos twittert die Bundeswehr am 5. Juni 2021 in die Welt: Sie zeigen Brigadegeneral Ansgar Meyer, damals Kommandeur der deutschen Truppen in Afghanistan, wie er den afghanischen General Mustafa Wardak durch Camp Marmal führt, das deutsche Feldlager bei Masar-i-Scharif. Man bereite "die reibungslose Übergabe der Liegenschaft an die afghanischen Streitkräfte vor", heißt es in dem Tweet. Die Deutschen ziehen ab aus dem Norden des Landes, wo sie über Jahre für die Sicherheit verantwortlich waren.

Lange Freude sollten die Afghanen an dem Stützpunkt nicht haben: Gut zwei Monate nach dem Termin ergab sich Wardaks Einheit den Taliban. Wann aber für die Bundesregierung absehbar war, dass die afghanischen Streitkräfte und die Regierung von Präsident Aschraf Ghani kollabieren und die Taliban das Land am Hindukusch im Handstreich nehmen würden, das gehört zu den zentralen Fragen, die jetzt ein Untersuchungsausschuss des Bundestags klären will.

An diesem Donnerstag nehmen die Abgeordneten unter Vorsitz des SPD-Abgeordneten Ralf Stegner ihre inhaltliche Arbeit auf, die sich auf den Zeitraum erstreckt vom Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban am 29. Februar 2020 bis vier Wochen nach den katastrophalen Tagen in Kabul im August 2021, als die Truppen der Nato-Staaten überstürzt in einer militärischen Evakuierungsoperation abzogen - und Tausende afghanische Ortskräfte zurückließen, die für westliche Regierungen gearbeitet hatten und seither teils wohl um ihr Leben bangen müssen.

Den Deutschen war klar, dass der Abzug der westlichen Truppen den radikalen Islamisten in die Hände spielen könnte, das belegen Akten aus der Bundesregierung, die dem Ausschuss vorliegen. Schon in einem Vermerk aus dem Bundesverteidigungsministerium aus dem Dezember 2020, eingestuft als "Verschlusssache, nur für den Dienstgebrauch", den WDR und Süddeutsche Zeitung wie andere Dokumente einsehen konnten, heißt es, "Bilder der Flucht" sollten "abgewendet" werden. Das erfordere aber eine "geordnete Rückverlegung" - die Wahrscheinlichkeit dafür jedoch hält die Abteilung Strategie und Einsatz des Ministeriums ob der straffen Vorgaben der Amerikaner schon damals für "sehr gering".

"Um Bilder einer Flucht zu vermeiden"

Monate später, bei einer Dienstbesprechung am 11. Mai 2021, kommt das Thema wieder auf. "Um Bilder einer Flucht zu vermeiden: Antrag des Einsatzkontingents zur Übergabe CM an 209. ANA-Corps", heißt es im Protokoll, das sich ebenfalls in den Akten findet. CM steht für Camp Marmal, das Feldlager. Das 209. Corps ist die Einheit von General Wardak. "Bilder der Flucht sind in jedem Falle zu vermeiden - und haben Leitungsrelevanz", ist an anderer Stelle vermerkt, fett gedruckt, mit drei Ausrufezeichen. Alles sollte ruhig aussehen, als hätte niemand etwas zu befürchten.

Die Episode zu Camp Marmal ist eine von vielen, die sich aus den Zehntausenden Dokumenten rekonstruieren lassen, durch die sich der Ausschuss in seiner auf mehrere Jahre angelegten Arbeit wühlen muss. Für abschließende Einschätzungen ist es viel zu früh, doch lassen sich in groben Zügen politische Entscheidungsprozesse in Berlin und auf internationaler Ebene nachzeichnen - die in manchem der Geschichte mit dem Feldlager ähneln.

Das Abkommen mit den Taliban verhandelt der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad im Alleingang. Die internationalen Partner, die von der US-Präsenz in Afghanistan abhängig sind, werden zwar informiert, aber nicht gefragt. "Wir sollten von Washington mehr Transparenz und Einbeziehung fordern", kabelt die Botschaft in Kabul mit Blick auf den Abzug der westlichen Truppen wenige Tage nach Abschluss der Vereinbarung nach Berlin.

Das Abkommen enthalte "nichts zu einer fortgesetzten Gewaltreduzierung der Taliban", warnten die Diplomaten. Außer zur Terrorismusbekämpfung hätten sich die Taliban "zu nichts verpflichtet", erhielten aber eine "klare Zeitlinie" für den Rückzug. Den, so der Schluss, müssten sie nur abwarten.

Bürgerkrieg als wahrscheinlichste Option

Die Gewalt der Taliban, die Zerstrittenheit der afghanischen Regierung, das identifizieren die Ressorts durchgängig als Probleme für den angestrebten Friedensprozess. "Fortführung militärischer Kampf" seitens der Taliban taucht in den Szenarien des Verteidigungsministeriums kurz nach Abschluss des Abkommens ebenso auf wie "dauerhafter Bürgerkrieg", die letztgenannte Variante grün markiert: eine der wahrscheinlichsten Optionen.

In der Bundesregierung hofft man, nach der Präsidentenwahl in den USA im November 2020 den Ansatz Washingtons noch einmal verändern zu können. Weil entweder der innenpolitische Druck dann von Donald Trump genommen ist. Oder sein Konkurrent Joe Biden den Kurs korrigiert. Das Auswärtige Amt wirbt in der Nato um Unterstützer dafür, den Abzug doch wieder abhängig zu machen von Fortschritten im Friedensprozess, von der Lage in Afghanistan. Durchsetzen wird sich Deutschland damit nicht.

Um auf die afghanischen Konfliktparteien einzuwirken, überlegt Berlin, als Ausrichter und Vermittler für Friedensverhandlungen zu fungieren - die Regierung in Kabul, von US-Unterhändler Khalilzad bei den Verhandlungen mit den Taliban weitgehend ignoriert, trägt das als Wunsch an die Deutschen heran.

Das Auswärtige Amt dringt zwar bereits im Frühjahr 2021 in der Bundesregierung darauf, Ortskräften die Einreise nach Deutschland durch Visa-Erteilung bei der Ankunft zu erleichtern, doch ein echtes Krisenszenario für einen möglichen Staatszerfall und die Evakuierung Tausender Menschen bereitet die Bundesregierung nicht vor. Im Gegenteil: Das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit geht davon aus, dass es die Entwicklungshilfe in Afghanistan auch nach dem Abzug fortsetzen wird.

Viele sind nicht mehr im Amt

Das Auswärtige Amt plant, eine diplomatische Präsenz aufrechtzuerhalten. Erst am 10. August schreibt ein leitender Beamter im Krisenreaktionszentrum des Amts in einer E-Mail an Kollegen: "Läuft auf eine Art Rückholaktion für Afghanistan raus." Fünf Tage später hatten die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul übernommen, klammerten sich verzweifelte Menschen an startende US-Militärflugzeuge.

Die damals politisch Verantwortlichen in Deutschland sind heute nicht mehr im Amt, Kanzlerin Angela Merkel ist im Ruhestand, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ebenso. Außenminister Heiko Maas ist einfacher Bundestagsabgeordneter. In den Fokus geraten könnten allerdings leitende politische Beamte. Jens Plötner etwa, der sicherheitspolitische Berater von Kanzler Olaf Scholz, damals Politischer Direktor im Auswärtigen Amt. Oder Bruno Kahl, der Präsident des Bundesnachrichtendiensts (BND). Der Ausschuss wird sich also vor allem auf die Lehren konzentrieren müssen für "Befugnisse, Organisation, Arbeit und Kooperation sowie für die Fehlervermeidung in den beteiligten Ressorts der Bundesregierung und ihrer nachgeordneten Behörden", wie es im Einsetzungsbeschluss heißt.

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