Afghanistan:Ticket in die Vergangenheit

Afghanistan: Nach dem Angriff auf das Büro der Hilfsorganisation Care in Kabul begutachten Anwohner eine beschädigte Fassade.

Nach dem Angriff auf das Büro der Hilfsorganisation Care in Kabul begutachten Anwohner eine beschädigte Fassade.

(Foto: Wakil Kohsar/AFP)

Die Taliban sind wieder auf dem Vormarsch. Am einstigen deutschen Standort Kundus wächst die Angst. Denn die Islamisten nähern sich der Provinzhauptstadt.

Von Tobias Matern, Mitarbeit: Aimal Yaqubi, Kabul/München

Die Angst geht um in Afghanistan, wieder einmal. So beschreibt es Mirza Mohammad Laghmani in einem Telefonat mit der Süddeutschen Zeitung. Der Stammesältere berichtet, dass die Taliban in einigen Distrikten der nordafghanischen Provinz Kundus die Macht an sich gerissen hätten, dass die Sicherheitskräfte sich nur noch zurückziehen konnten. Und die Islamisten zögen die Schlinge immer enger, näherten sich der Provinzhauptstadt. Noch sei es hier im Moment zwar "vergleichsweise ruhig", betont Laghmani. Aber schon an den Außengrenzen der Stadt, in der einst die Bundeswehr ein Lager betrieb, stünden die Islamisten.

Die Sicherheitslage im ganzen Land ist äußerst kritisch. Das Büro der Hilfsorganisation Care in der Hauptstadt Kabul wurde am Dienstag Ziel eines bewaffneten Angriffs. Die drei Angreifer seien getötet worden, teilte das Innenministerium am Dienstag mit. Sechs Menschen seien verletzt worden. Es war der sechste große Anschlag in der afghanischen Hauptstadt seit Mitte Juni. Die Opferzahl eines Doppelanschlags in der Nähe des Verteidigungsministeriums vom Montag erhöhte sich derweil auf 41 Tote und 110 Verletzte.

In der Nähe von Kundus, im Distrikt Khanabad, toben seit mehr als einer Woche heftige Gefechte zwischen den Aufständischen und Regierungstruppen. Hunderte Familien hätten sich in die Provinzhauptstadt geflüchtet, um nicht in die Schusslinie zu geraten. "Über allem schwebt die Furcht, dass die Stadt bald kollabieren könnte", schildert der Stammesältere die Stimmung.

Als die Taliban im November 2015 Kundus für kurze Zeit einnahmen, war das ein Schock für die Afghanen, aber auch für Deutschland. Die Bundeswehr war hier 2013 abgezogen. Kundus ist für die Deutschen zum Inbegriff des Krieges geworden. Hier haben die Deutschen die größten Verluste erlitten, hier haben sie militärisch viel investiert, vor allem als Flankenschutz für die deutsche Aufbauhilfe wollten sie ihre Rolle verstanden wissen, bis sie in heftige Kämpfe verstrickt wurden.

Dass die Provinzhauptstadt im vergangenen Jahr von den Islamisten beherrscht wurde, war strategischen Fehlern der afghanischen Sicherheitskräfte geschuldet. Das hat das Vertrauen der Bewohner in ihre Polizei und Armee nachhaltig geschwächt. Eigentlich war es der westliche Plan vor dem Abzug der Kampftruppen Ende des Jahres 2014, Polizei und Armee für den Moment zu wappnen, an dem sie nicht länger auf militärische Unterstützung der Ausländer zurückgreifen konnten.

Doch das klappt in Kundus, wie in anderen Landesteilen, kaum. Der Westen hat zwar nach wie vor 10 000 militärische Ausbilder am Hindukusch stationiert, aber die afghanischen Sicherheitskräfte zeichnen sich außer durch ihre unbestrittene Tapferkeit leider auch durch eine Reihe von Problemen aus: Es mangelt an kompetenten Führungskräften, die Luftwaffe ist nur schwach ausgestattet, Korruption ist nach Angaben von Beobachtern verbreitet.

General Mohammad Qasim Jangal Bagh zeichnet dennoch ein optimistisches Bild der Lage in Kundus. Der Polizeichef gesteht zwar im Telefonat mit der SZ ein, dass "die Feinde an den Rändern der Provinzhauptstadt aktiv" sind. Aber im Moment sei Kundus-Stadt "ruhig und sicher". Zahlreiche Sicherheitskräfte seien hier zusammengezogen worden: "Die Feinde werden niemals in der Lage sein, die Stadt wieder zu übernehmen", ist er sich sicher.

Auch die Regierung in Kabul verfolgt die Situation in Kundus aufmerksam. Der Sprecher des afghanischen Innenministeriums, Sediq Sediqqi, sagte der SZ, die Lage dort sei "nicht stabil". Die Sicherheitskräfte seien darum bemüht, von den Taliban dominierte Gebiete "zurückzugewinnen". Im Moment müssten sich Polizei und Armee aber darauf konzentrieren, Angriffe der Islamisten zurückzuschlagen und dafür zu sorgen, dass sie nicht weitere Gebiete einnähmen. Wie sich die Situation entwickle, lasse sich "nicht vorhersagen".

Die afghanische Regierung ist vollauf mit internen Streitigkeiten beschäftigt

Kundus ist nur eine von zahlreichen Problemregionen. Auch in Südprovinzen wie Helmand gibt es schwere Kämpfe. In der östlich gelegenen Provinz Paktia nahmen die Taliban einen Bezirk unter ihre Kontrolle. Zudem bemühen sich die Islamisten, in großen Städten spektakuläre Anschläge zu verüben. Kürzlich schlugen sie an der American University in Kabul zu. Gerade bei jungen, urbanen Afghanen hat der Angriff, bei dem 16 Menschen starben, traumatische Spuren hinterlassen. Bildung gilt bei Schülern und Studenten als das Ticket in ein besseres Leben. Gerade diejenigen, die in Afghanistan geblieben sind, wollen die Zukunft ihres Landes aktiv gestalten. Auch wenn ihre Aussichten auf einen Beruf düster sind, ist die Begeisterung zu lernen in Afghanistan nach wie vor sehr ausgeprägt.

Präsident Ashraf Ghani sagte nach dem Angriff auf die Universität, die Attacke sei in Pakistan geplant worden. Nach wie vor sehen Beobachter den Schlüssel für Friedensgespräche im Nachbarland. Doch der Prozess ist ausgesetzt. Bemühungen, die Taliban an den Verhandlungstisch zu bekommen, sind gescheitert. Zudem ist die afghanische Regierung mit internen Streitigkeiten beschäftigt. Präsident Ghani und der zweite Mann in der Regierung, Abdullah Abdullah, misstrauen einander.

Wie die Vereinten Nationen gerade wieder in einem Bericht festgehalten haben, leidet vor allem die Zivilbevölkerung unter der instabilen Lage. Im ersten Halbjahr des Jahres 2016 wurden 5166 Zivilisten verletzt oder getötet. Das ist eine Zunahme im Vergleich zum Vorjahr von etwa vier Prozent.

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