Viel ist nicht mehr zu hören aus Kabul. Die Welt schaut auf den anhaltenden Krieg Russlands gegen die Ukraine, die nicht endende Spirale der Gewalt in Nahost. In Afghanistan haben sich die Taliban an der Macht etabliert, sie suchen keine Annäherung an den Westen.
Immer wieder mal verurteilt der UN-Sicherheitsrat zwar die Politik der Islamisten, machen Hilfsorganisationen auf das Leid der Menschen aufmerksam, denen nach dem Abzug der westlichen Truppen 2021 und dem Abschmelzen der Hilfsgelder in vielen Fällen das Wasser bis zum Hals steht. Aber eine neue Strategie, wie mit dem Land am Hindukusch nach dem gescheiterten westlichen Militäreinsatz umzugehen ist, gibt es nicht.
Politisch verharrt das Regime der Islamisten im Westen in der Isolation, im Land selbst stellt die Herrscher niemand infrage. Während die Menschenrechtsverletzungen, vor allem die frauenfeindliche Agenda und das systematische Ausgrenzen von Mädchen aus dem Bildungssystem, eine Annäherung erschweren, zeigen Gespräche mit Vertretern der Zivilgesellschaft: Teile der afghanischen Diaspora träumen nach wie vor von einem Regierungswechsel in Kabul, der jedoch in weiter Ferne liegt. Aber es gibt auch mehr und mehr Pragmatiker in der Zivilgesellschaft, die sich den neuen Verhältnissen anpassen.
Die Taliban drehen die Uhren zurück
„Es ist nicht alles schwarz oder weiß, vieles ist grau im heutigen Afghanistan“, sagt der Mitarbeiter einer afghanischen Nichtregierungsorganisation. Er bittet darum, namentlich nicht genannt zu werden, weil er das Verhältnis zu den Taliban nicht auf die Probe stellen möchte, wenn er sich in westlichen Medien zu Wort meldet. Der Mann betont, dass die Taliban ihn und seine Mitarbeiter zwar gewähren ließen, sie aber alles andere als berechenbar seien. „Nächste Woche kann eine Zusage zurückgenommen werden, da wird unsere Arbeit vielleicht eingeschränkt, wenn jemand von den Taliban Anstoß daran nimmt. Niemand weiß es genau.“

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In einigen NGOs arbeiten auch weiterhin Frauen, die meisten Tätigkeiten verrichten sie von zu Hause aus. Bei Workshops zwischen Vertretern der Provinzen und den Taliban, bei denen sich die Islamisten nach Darstellung des NGO-Mitarbeiters durchaus auch kritische Töne gefallen lassen, sind Frauen zugelassen. Sie tagen nach einem Dekret der Taliban nun in getrennten Räumen von den Kollegen. Neu ist zudem, dass sie für Reisen einen männlichen Begleiter benötigen, so schreiben es die drakonischen Regeln des Regimes vor.
Die Taliban drehen die Uhren zurück, sie sehen sich als Sieger eines ideologischen Kampfes, den sie nach 20 Jahren Krieg gegen den Westen gewonnen haben. Der NGO-Mitarbeiter sagt, im Vergleich zum ersten Regime (1996 bis 2001) hätten die Taliban in einigen Bereichen indes deutlich dazugelernt: „Ihre Regierungsführung ist ausgereifter, und im Vergleich zu der von ihnen gestürzten Regierung lassen sie deutlich weniger öffentliche Korruption zu.“ Aus Sicht des NGO-Mannes sollte sich die westliche Staatengemeinschaft stärker in Afghanistan engagieren, denn die Isolation des Landes mache das Leben für die Menschen härter. „Nur ein Engagement des Westens kann auch zu Verbesserungen führen, vor allem für Frauen“, sagt er.
Das allgemeine Gefühl ist, dass die Weltgemeinschaft die Bevölkerung vergessen hat
Es reisen inzwischen auch wieder Mitglieder der von den Taliban im August 2021 gestürzten Regierung in die Heimat. Zum Beispiel Rangina Hamidi, letzte Bildungsministerin im Kabinett des im August 2021 aus Afghanistan geflohenen Ex-Präsidenten Aschraf Ghani. „Die Sicherheitslage in Kabul ist gut, meine Reisebegleitung und ich wurden nicht bedroht“, sagt die Ex-Ministerin in einer Sprachnachricht über einen kürzlichen Besuch in Kabul.
Die Taliban hätten Schluss gemacht mit der „Warlord-Struktur“ der gestürzten Regierung: Sie nähmen keine Rücksicht auf die Kriegsfürsten, die von den Regierungen in der Republik immer wieder hofiert worden seien, um die fragile Machtbalance zu erhalten. Die Villen der Warlords in Kabul würden nun abgerissen, damit der Verkehr in der Hauptstadt besser fließen könne, sagt Hamidi.
Die Straßenhändler gingen in Kabul ihren Geschäften nach, „an der Oberfläche gibt es so etwas wie Normalität“, beschreibt Hamidi ihre Beobachtungen. Aber dennoch habe sie bei den Menschen eine allgemeine Hoffnungslosigkeit ausgemacht, vor allem für Frauen sei die Lage desperat. Das allgemeine Gefühl der Afghaninnen und Afghanen sei, dass die Weltgemeinschaft sie längst vergessen habe. Und ihnen die Perspektive fehle.
Vor allem die Aussichten für Mädchen, die offiziell nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen dürfen, macht Hamidi zu schaffen. Sie hat selbst eine Tochter im Alter von 15 Jahren. Zwar sagt die Ex-Ministerin, sie selbst könne sich inzwischen sogar vorstellen, wieder zurück nach Afghanistan zu gehen, um sich dort zu engagieren. Aber sie wolle im Sinne ihrer Tochter zunächst im Ausland bleiben, damit das Kind ohne Probleme zur Schule gehen könne.
Der Umgang mit den Taliban bewegt sich auf einem schmalen Grat
Aus Sicht des renommierten Afghanistan-Experten Thomas Ruttig bewegt sich der Umgang mit den Taliban auf einem schmalen Grat. Im Land engagierte Aktivistinnen und Aktivisten befänden sich immer in einem Graubereich, sagt er: „Ist das jetzt schon Kollaboration, wie es ihnen Gegner dieser Zusammenarbeit vorwerfen, oder doch eher ein lebensnotwendiger Kompromiss, den sie mit ihrer Arbeit eingehen?“ Die Taliban jedenfalls setzten einiges daran, Nichtregierungsorganisationen stärker zu kontrollieren.
Hinzu kommt, dass der Führer der Taliban, kaum sichtbar für die Öffentlichkeit, von Kandahar aus mithilfe von Dekreten regiert, die Ministerien aber von Kabul aus aktiv sind. Daraus resultiere „eine systematische Unsicherheit“, was nun genau erlaubt sei und was nicht.
Auch Ruttig fordert indes ein stärkeres Engagement in Afghanistan. „Der Westen ist durch den desaströsen Einsatz entscheidend an der heutigen Situation beteiligt“, sagt er. Daraus entstehe eine Verpflichtung, sich weiterhin zumindest humanitär für die Menschen in Afghanistan einzusetzen, möglichst auch durch Entwicklungszusammenarbeit, etwa in der Abwehr der Klimakrise.„Das muss unterhalb der Schwelle von diplomatischer Anerkennung passieren“, skizziert er eine mögliche Strategie im Umgang mit den Taliban.