Süddeutsche Zeitung

Außenpolitik:Afghanischer Stresstest

Der Eroberungszug der islamistischen Taliban stellt auch die Bundesregierung vor Probleme: Ortskräfte warten auf Hilfe. Und die Sorge vor einer Flüchtlingswelle wächst.

Von Constanze von Bullion und Nico Fried

Es gab Zeiten, da musste man Afghanistan wichtig reden. Als der ehemalige Verteidigungsminister Peter Struck 2004 erklärte, die Sicherheit Deutschlands werde auch am Hindukusch verteidigt, pumpte er Relevanz in einen Militäreinsatz, der sich in einem fast 5000 Kilometer entfernten Land abspielte und zu Hause mit Skepsis betrachtet wurde. Lange hat sich die deutsche Öffentlichkeit dann an die Geschehnisse in Afghanistan gewöhnt und ihnen nur sehr punktuell größere Aufmerksamkeit gewidmet. Das ändert sich nun rasant.

Jeden Tag kommen neue Schreckensmeldungen aus dem Land, das nach dem Abzug der internationalen Truppen von den islamistischen Kämpfern der Taliban überrannt wird. Beobachter warnen vor einem Bürgerkrieg und einer humanitären Katastrophe. Um zumindest einen Rest von Kontrolle zu simulieren, haben die USA und Großbritannien angekündigt, Soldaten an den Flughafen von Kabul zu entsenden, um die Evakuierung eigener Botschaftsmitarbeiter und verbliebener afghanischer Mitarbeiter abzusichern.

Und die deutsche Regierung? Wirkt sonderbar hilflos. Man will jetzt das deutsche Botschaftspersonal in Kabul eilig ausfliegen und - wenn möglich - auch Ortskräfte, die deutsche Behörden in Afghanistan unterstützt haben und nun die Rache der Taliban fürchten. Innenminister Horst Seehofer (CSU), dessen Haus zuletzt noch betont hatte, nach Deutschland könnten nur Ortskräfte einreisen, die eindeutig identifiziert seien, will nicht länger als Bremser dastehen. "Wir sind für jedes Verfahren offen", sagte er der Süddeutschen Zeitung. "Wenn die Klärung der Identität und die Erteilung der Visa in Afghanistan nicht möglich ist, kann sie in Deutschland durchgeführt werden." Mit anderen Worten: Ortskräfte können jetzt auch ohne Pass nach Deutschland kommen, wenn sie auf der Liste einer deutschen Behörde oder der Bundeswehr genannt sind - und wenn sie durchkommen bis zum Flieger.

Tausende Helfer sind noch in Gefahr

Das aber ist für viele kaum noch möglich. 1818 ehemalige Helfer mit Angehörigen sind inzwischen in Deutschland. Tausende andere sind zurückgeblieben in höchster Gefahr. Deutschland steht bei ihnen im Wort, ohne es halten zu können. Binnen Wochen ist Afghanistan so zu einem Land geworden, das die deutsche Außenpolitik einem Stresstest unterzieht. Es geht um moralische Glaubwürdigkeit bei der Evakuierung der Ortskräfte, um das Verhältnis von Recht und Sicherheit bei der Abschiebung afghanischer Straftäter, um Ängste vor einer Massenflucht, die auch Europa erreichen könnte und um die Konsequenzen, die aus dem überstürzten Abzug der westlichen Truppen für die Zukunft zu ziehen sind.

Bald gedenkt die Welt der Terroranschläge in den USA am 11. September 2001. In der von Gerhard Schröder ausgerufenen "uneingeschränkten Solidarität" beteiligte sich die Bundeswehr am Einsatz in Afghanistan. Der Kanzler sprach von einer "Enttabuisierung des Militärischen". Für Deutschland war das angesichts seiner Geschichte ein großer Schritt. Damals ging man mit den Amerikanern rein, jetzt musste man mit ihnen wieder raus. "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei" - so hatte es Angela Merkel im Mai 2017 im Bierzelt von München-Trudering mit Blick auf die Beziehungen zu den USA unter dem damals neuen Präsidenten Donald Trump formuliert. Der Satz galt als eine Art emanzipatorischer Schritt. Doch jetzt hat ausgerechnet Joe Biden Deutschland und Europa mit dem Abzug aus Afghanistan vor große Probleme gestellt. Nun rückt der zweite Teil von Merkels Truderinger Thesen in den Vordergrund: "Deshalb kann ich nur sagen: Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen."

Genug passiert ist seither nicht. Außenminister Heiko Maas (SPD) hat die Abhängigkeit der Verbündeten von den USA jüngst auf den Punkt gebracht: "Ohne die amerikanischen Fähigkeiten, die dort vorgehalten werden, kann keiner alleine seine Soldaten hinschicken." Ist die Konsequenz aus 20 Jahren Einsatz die Entzauberung des Militärischen? Oder müsste man nicht irgendwann in der Lage sein, einen solchen Einsatz auch alleine aufrechtzuerhalten, wenn es das Interesse erfordert?

Am Beispiel steigender Flüchtlingszahlen, die manche auf Deutschland zukommen sehen, ist dieses Interesse schnell definiert. Seehofer richtete den Blick am Freitag auf global anwachsende Migrationsbewegungen: "Afghanistan, Belarus, Pakistan, Iran, Tunesien, Marokko, Libyen, Türkei - wir müssen die Krisenentwicklung weltweit sehen." Wenn es den europäischen Regierungschefs und der EU-Kommission nicht gelinge, die EU-Außengrenzen zu sichern und ein gemeinsames Verteilungssystem für Migranten zu schaffen, seien zunehmende nationale Abschottungsmaßnahmen absehbar. "Mir geht es nicht um Panikmache, sondern um das Erkennen eines absehbaren, großen Problems." Wie es zu lösen ist, vermag er nicht zu sagen.

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