Süddeutsche Zeitung

Truppenabzug des Westens:Plötzlich allein in Afghanistan

Präsident Ghani kritisiert, der Westen habe sein Land überhastet verlassen - und so den Taliban in die Hände gespielt. Die Islamisten hätten sich nur in einem Punkt verändert: "Sie sind grausamer geworden."

Von Tobias Matern

Der afghanische Staatschef Aschraf Ghani hat am Montag den "hastigen" Abzug des Westens aus seinem Land kritisiert. Dieser habe die Taliban "legitimiert statt Frieden zu bringen", sagte Ghani in einer Rede vor beiden Kammern des Parlaments in Kabul. Der aktuelle Vormarsch der Islamisten sei auch eine Folge "der plötzlichen Entscheidung, die internationalen Truppen abzuziehen".

Die Taliban haben sich den nahezu vollständig vollzogenen Abzug des Westens zunutze gemacht und in den vergangenen Monaten zahlreiche Distrikte unter ihre Kontrolle gebracht. Nach Berechnungen unabhängiger Beobachter kontrollieren sie bereits mehr als die Hälfte des Landes. Sie attackieren inzwischen auch große Städte wie dieser Tage Herat unweit der Grenze zu Iran.

Die Taliban hätten sich nur in einem Punkt geändert, kritisierte Ghani: "Sie sind grausamer geworden." Berichte über Menschenrechtsverletzungen häufen sich in Gebieten, in denen die Islamisten die Macht übernommen haben. US-Außenminister Antony Blinken sagte am Montag in Washington, die Berichte über Gräueltaten der Taliban seien "zutiefst verstörend und vollkommen inakzeptabel". Sein Ministerium teilte mit, die Taliban seien für die meisten der "grauenhaften Gewalttaten" im Land verantwortlich. Sie würden kaum Rücksicht auf menschliches Leben oder die Rechte des afghanischen Volkes nehmen.

Zahlreiche Beobachter gehen davon aus, dass die Taliban mit ihrer militärischen Offensive Ghanis Regierung zur Aufgabe zwingen wollen. Denkbar ist auch, so Analysten in Kabul, dass sie zum Sturm auf Kabul ansetzen könnten. Alle Appelle, auch der Vereinten Nationen, die Gewalt einzustellen, haben die Taliban bislang ignoriert.

Die Taliban nutzen ein diplomatisches Versäumnis

Ghani versprach zwar auch, dass die Lage sich in den kommenden sechs Monaten zum Besseren ändern werde, weil die Regierung einen neuen Sicherheitsplan ausgearbeitet habe, wonach die Armee strategische Ziele und die Polizei die Städte sichern solle. Allerdings ist die Moral der Sicherheitskräfte im Keller, viele Polizisten und Soldaten beklagen, dass sie ihre Löhne spät oder reduziert erhielten, weil korrupte Beamte sich einen Teil in die eigene Tasche steckten.

Dem afghanischen Präsidenten fehlt nach dem Abzug des Westens der militärische Rückhalt, um die Taliban auf Augenhöhe an den Verhandlungstisch zu bekommen. Die USA hatten sich bilateral mit den Islamisten im vergangenen Jahr auf einen Abzug verständigt, allerdings nicht darauf gepocht, dass diese sich auch mit der Regierung Ghani auf einen Frieden verständigen müssen. Von diesem diplomatischen Versäumnis profitieren nun die Taliban. In der Region werden sie längst als Machtfaktor akzeptiert, Chinas Außenminister etwa empfing vergangene Woche eine Taliban-Delegation in Peking in freundlicher Atmosphäre.

Angesichts der sich verschärfenden Sicherheitslage in Afghanistan begann Russland am Montag mit den Anrainerstaaten Tadschikistan und Usbekistan ein Militärmanöver in der Grenzregion. Am Donnerstag soll ein trilaterales Manöver zusammen mit Tadschikistan folgen. Die früheren Sowjetrepubliken Tadschikistan und Usbekistan grenzen im Süden an Afghanistan.

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