Süddeutsche Zeitung

Truppen-Abzug:Wer in Afghanistan versagt hat

Wohl mehr als 200 000 Tote, Kosten von zwei Billionen Dollar: Zwei Jahrzehnte lang haben westliche Truppen versucht, die Taliban zu besiegen - nun befürchten viele, dass die den Krieg erfolgreich ausgesessen haben.

Von Tobias Matern

Er wählt große Worte, jedem soll klar werden, wie es seiner Meinung nach um das Land steht: "Die Wahrheit ist, heute ist das Überleben, die Sicherheit und die Einheit Afghanistans in Gefahr", sagt Abdullah Abdullah. Der Abzug der westlichen Truppen habe dem Land keinen Frieden gebracht, "sondern den Krieg eskaliert". Abdullah mischt seit Jahren in der vordersten Reihe der afghanischen Politik mit. Er war Regierungsgeschäftsführer unter Präsident Aschraf Ghani, im Moment ist seine zentrale Aufgabe, als Chef des "Rates für nationale Versöhnung" die Taliban an den Verhandlungstisch zu bekommen. Statt zu verhandeln, nutzten die Islamisten aber eher den Raum aus, den der Abzug der ausländischen Truppen ihnen eröffne, sagte Abdullah vor ein paar Tagen.

Neben den Deutschen, die in der vergangenen Woche ihre letzten Soldaten aus dem Norden Afghanistans ausgeflogen haben, beenden auch die anderen Verbündeten der USA ihren Einsatz am Hindukusch. Und die Amerikaner, die in dem 20-jährigen Einsatz finanziell, militärisch und politisch immer den Ton angegeben haben, räumten am Freitag ihren zentralen Luftwaffenstützpunkt Bagram. Nun ist nur noch ein Restkontingent amerikanischer Soldaten im Land, sie sollen vor allem in Kabul die Botschaft und den Flughafen schützen. Spätestens bis zum 11. September, dem 20. Jahrestag der Terrorangriffe auf die USA, die den Einsatz in Afghanistan nach sich zogen, sollen auch sie nach Hause kommen.

2442 amerikanische und 59 deutsche Soldaten sind in dem Einsatz gestorben. Die Vereinten Nationen in Kabul dokumentieren seit 2009 die zivilen Opfer des Konflikts, demnach sind etwa 111 000 afghanische Zivilisten getötet oder verletzt worden. Zu den Verlusten der afghanischen Sicherheitskräfte macht die Regierung in Kabul seit Längerem keine genauen Angaben mehr. Die Brown-Universität in Providence, Rhode Island, nimmt bis zu 69 000 getötete afghanische Sicherheitskräften an, was die Zahl der getöteten Taliban-Kämpfer betrifft, gibt es keine zuverlässigen Schätzungen. Und das Geld? Allein der US-Einsatz habe zwei Billionen Dollar gekostet, rechnen die Forscher der Brown-Universität vor.

Der Präsident gibt sich dankbar, sein Vorgänger erhebt Vorwürfe

Die Taliban haben schon seit Jahren einen strategischen Vorteil: Sie wissen, dass sie den Konflikt vor allem nur aussitzen müssen. US-Präsident Barack Obama hatte während seiner Amtszeit das Ende des Kampfeinsatzes beschlossen. Nach und nach sollten die afghanischen Sicherheitskräfte allein die Verantwortung übernehmen, nur noch beraten von den westlichen Soldaten und Polizisten. In der Spätphase der Präsidentschaft von Donald Trump gelang den Taliban dann im vergangenen Jahr ein diplomatischer Coup: Sie handelten in Katar mit US-Diplomaten den Abzug der internationalen Truppen aus, ohne selbst große Zugeständnisse machen zu müssen. Vor allem brachte der Westen vor dem Abzug nicht mehr die Anstrengung auf, die Taliban und die Regierung von Präsident Aschraf Ghani an einen Tisch zu zwingen, um eine innerafghanische Friedenslösung zu erreichen. Und so besteht zumindest die Möglichkeit, dass die Taliban, die der Westen im Jahr 2001 gestürzt hat, 20 Jahre später wieder die Macht in dem Land übernehmen werden.

Zwar betont Ghani, wie dankbar er dem Westen für den langen Einsatz sei und dass er die Entscheidung des Rückzugs respektiere, wenn weitere Hilfen garantiert blieben. Aber sein Vorgänger Hamid Karsai wählt eine ganz andere Tonlage: "Die internationale Gemeinschaft kam vor 20 Jahren mit dem eindeutigen Ziel, den Extremismus zu bekämpfen und Stabilität zu bringen, aber der Extremismus hat seinen höchsten Punkt erreicht." Karsai, der sich während seiner Präsidentschaft mit den Amerikanern überworfen hat, zog im Fernsehsender Al Jazeera ein vernichtendes Fazit: "Also haben sie versagt."

In Katar laufen weiterhin Verhandlungen

Tatsächlich sind die Taliban derzeit stark wie nie seit ihrem Sturz. Vor allem im ländlichen Raum haben sie zahlreiche Distrikte eingenommen, sie üben direkten Einfluss auf etwa die Hälfte des Landes aus. In immer mehr Regionen greift auch die Zivilbevölkerung zu den Waffen, um die Kräfte der Regierung im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen. Und Warlords, die den Islamisten in inniger Feindschaft gegenüberstehen, wetzen die Messer. Aus Sicht der Menschen in Afghanistan könnte sich die Geschichte auch wiederholen: Nach dem Rückzug der Sowjetunion im Jahr 1989 fiel das Land ins Chaos. Ein Bürgerkrieg brach aus, die verfeindeten Warlords beschossen sich von den Hügeln Kabuls. Letztlich entschieden die Taliban den Konflikt und regierten von Kabul aus seit 1996 mit harter Hand über weite Teile des Landes.

In der Hauptstadt rechnen Beobachter nun damit, dass die Islamisten auch den Angriff auf die Regierung wagen werden, wenn die ausländischen Truppen alle weg sind. Noch laufen aber in Katars Hauptstadt Doha die von westlichen Diplomaten unterstützten Bemühungen, Taliban und afghanische Regierung zu einer Friedenslösung am Verhandlungstisch zu bringen. Manche Afghaninnen und Afghanen haben die Hoffnung auf Frieden aufgegeben. Die Kabuler Studentin Sadia, 21, zum Beispiel sagt: "Ich glaube, dass die afghanischen Sicherheitskräfte in der Lage sein werden, Afghanistan zu verteidigen, das ist ihr Job. Und wir sehen ja auch, dass die Sicherheitskräfte Distrikte von den Taliban zurückerobern." Sie klingt optimistischer als der Polit-Profi Abdullah Abdullah.

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