Süddeutsche Zeitung

Entscheidung in Washington:Biden zieht US-Truppen aus Afghanistan ab

Der US-Präsident will die Soldaten bis zum 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September aus dem Land holen. Damit geben die USA auch den Fahrplan für den Rückzug der Bundeswehr vor - in Kabul löst die Ankündigung Nervosität aus.

Von Paul-Anton Krüger, Tobias Matern und Mike Szymanski

Die USA beenden den längsten Kriegseinsatz ihrer Geschichte. Ein hochrangiger US-Regierungsvertreter sagte am Dienstagabend, Präsident Joe Biden habe entschieden, dass der Abzug aus Afghanistan im September bereits abgeschlossen sein solle und noch vor dem 1. Mai beginnen werde. Im Land würden lediglich so viele Soldaten verbleiben, wie dort zum Schutz des diplomatischen Personals nötig seien. Biden haben entschieden, den Rückzug nicht mehr abhängig von den Sicherheitsbedingungen zu machen. Denn dies sei ein Rezept, um für immer in Afghanistan zu bleiben.

Bidens Vorgänger Donald Trump hatte in Verhandlungen mit den radikalislamischen Taliban zugesagt, dass die westlichen Truppen in dem Land bis zum 1. Mai abgezogen werden - die Vereinbarung war allerdings an Bedingungen geknüpft, an die sich die Taliban nicht durchgängig halten. Zu diesem Zeitpunkt werden sich nach der neuen Planung noch mehr als 3000 US-Soldaten dort aufhalten. Biden hofft nach Angaben von Regierungsvertretern mit seiner Entscheidung aber, einen Anstieg der Gewalt durch die Taliban zu vermeiden, den die USA befürchten, weil der ursprünglich vereinbarte Termin nicht eingehalten wird.

Die Entscheidung löste in Kabul Nervosität aus. Ein Mitglied der afghanischen Delegation, die mit den Taliban verhandelt, sagte der Süddeutschen Zeitung am Dienstagabend, ein US-Abzug vor einer innerafghanischen Friedenslösung werde das Land "ins Chaos führen". Die Taliban zeigten bislang keinerlei ernsthafte Verhandlungsbereitschaft. Die nun getroffene Ankündigung der US-Regierung bringe die Islamisten in eine "noch vielversprechendere Position, weil sie nun darauf hoffen können, dass sie sowieso gewinnen werden".

Düstere Einschätzung der US-Geheimdienste

Die USA hatten unter Biden eine Überprüfung der bisherigen Afghanistan-Strategie vorgenommen. Die US-Geheimdienste hatten ebenfalls am Dienstag eine düstere Einschätzung der Lage in dem Land am Hindukusch veröffentlicht. Die Chance für einen Friedensvertrag zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung schätzten sie darin als gering ein.

Die Geheimdienste hatten gewarnt, die Taliban würden das Land mit militärischen Mitteln übernehmen, sollten die USA sich zurückziehen, bevor die Regierung von Präsident Aschraf Ghani eine Einigung mit den Taliban erzielt. Ein hochrangiger US-Regierungsvertreter sagte, die Einschätzung gehe auch davon aus, dass das Terrornetzwerk al-Qaida derzeit nicht in der Lage sei, von Afghanistan aus Angriffe gegen Ziele in den USA oder im Westen zu planen. Die USA würden ausreichend Truppen und Geheimdienst-Leute in der Region belassen, um jederzeit auf eine Änderung der Lage reagieren zu können.

Osama bin Laden und andere Führungskader von al-Qaida hatten die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon im Jahr 2001 von Afghanistan aus geplant, das damals unter der Kontrolle der Taliban stand. Am 7. Oktober des Jahres flogen die USA die ersten Luftangriffe auf Ziele in Afghanistan, nachdem zuvor schon Soldaten von Spezialeinheiten dorthin verlegt worden waren, um bin Laden, andere Führungsfiguren von al-Qaida und Anführer der Taliban dingfest zu machen.

Bidens Entscheidung wird auch den Fahrplan für den Rückzug der anderen westlichen Truppen bestimmen. Ein US-Regierungsvertreter stellte klar, es werde dazu Konsultationen mit den Verbündeten geben. Ein geordneter Rückzug müsse sichergestellt werden. Insgesamt sind etwa 7000 weitere ausländische Soldaten im Land, die meisten von ihnen aus Nato-Staaten. Die Bundeswehr hat etwa 1050 Soldaten in Afghanistan. Der US-Regierungsvertreter warnte die Taliban vor Angriffen auf ausländische Truppen während des Abzugs. In einem solchen Fall würden die USA hart zurückschlagen, drohte er.

Berlin will einen gemeinsamen, geordneten Rückzug

Offiziell bestätigen wollte das Bundesverteidigungsministerium die US-Entscheidung zunächst nicht. Ziel bleibe ein gemeinsamer geordneter Abzug, sagte ein Sprecher am Dienstagabend in Berlin. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hatte zuvor ihren US-Kollege Lloyd Austin zu einem ersten Gespräch empfangen. Die Bundesregierung hatte sich dafür ausgesprochen, das Ende des Einsatzes vom Erfolg der Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der Kabuler Regierung abhängig zu machen.

Es wird damit gerechnet, dass die Entscheidung offiziell an diesem Mittwoch verkündet wird. Neben US-Verteidigungsminister Austin besucht dann auch Außenminister Tony Blinken das Nato-Hauptquartier in Brüssel für ein Treffen mit ihren Kollegen aus den anderen Mitgliedstaaten der Verteidigungsallianz.

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