Afghanistan:"Wenn ich getötet werde, ist die Bundesregierung dafür verantwortlich"

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Bei Auslandseinsätzen wie in Afghanistan interagieren Soldaten der Bundeswehr auch mit Einheimischen. Ein Studiengang an der Universität der Bundeswehr soll sie darauf vorbereiten. (Foto: Maurizio Gambarini/picture alliance/dpa)

Nach dem Abzug der Bundeswehr sind deren einheimische Helfer in höchster Gefahr. Sie sollen mit ihren Familien nach Deutschland kommen können. Ein geregeltes Verfahren gibt es dafür aber nicht.

Von Daniel Brössler und Tobias Matern

Am Tag danach hatte er nur einen Gedanken: weg, nichts wie weg hier. Die letzten deutschen Soldaten waren gerade aus ihrem Stützpunkt in Masar-i-Scharif abgezogen, vor den Toren der Stadt kämpften afghanische Sicherheitskräfte gegen die Taliban. Shoaib Ahmad Samadi ist mit seiner schwangeren Frau und dem 18 Monate alten Sohn am Mittwoch nach Kabul geflogen. Immerhin Kabul, das ist noch nicht von den Taliban umzingelt. Die Samadis wollen den Deutschen hinterherfliegen - in die Sicherheit. "In Afghanistan sind meine Chancen zu überleben gleich null", schreibt er in einer Textnachricht. Aber die Bundesregierung hat vor dem Abzug der Soldaten noch hohe bürokratische Hürden für Männer wie Samadi etabliert.

Der 33-Jährige hat Jura und Politik studiert - und neun Jahre lang für die Deutschen im Norden Afghanistans gearbeitet. Mit den Polizeiausbildern sei er auf Patrouille gewesen, habe das Training für die afghanischen Sicherheitskräfte unterstützt, bei Treffen hochrangiger Delegationen übersetzt. "Jeder hier weiß, dass ich für die Deutschen tätig war", schreibt er. Samadi ist einer von Hunderten sogenannter Ortskräfte, die als Berater, Fahrer, Köche für Bundeswehr, Polizei und Entwicklungshelfer gearbeitet haben. Schon während ihrer Tätigkeit haben sie von den Deutschen zwar ein für afghanische Verhältnisse gutes Gehalt bekommen: Samadi begann mit 450 US Dollar, später waren es 780 Dollar. Aber seine Ausreise, also auch die Kosten für den Flug für ihn und seine Familie, müsste Samadi selbst bezahlen. Er schreibt, dafür würde er sein Haus in Masar-i-Scharif verkaufen.

Schon 2016 schossen zwei Männer auf ihn

Samadi hat nach eigenen Angaben bereits während seiner Tätigkeit zahlreiche Drohungen erhalten und diese Vorfälle immer seinen deutschen Dienstherren gemeldet. Im Jahr 2016 schossen, so erzählt er es, zwei Männer von einem Motorrad aus viermal auf sein Auto: "Zum Glück habe ich das überlebt." Alle Polizeiberichte der afghanischen Behörden habe er den Deutschen gegeben, um ein Visum für die Ausreise zu bekommen. Nach langem Hin und Her habe er schließlich erfahren, dass der Antrag abgelehnt worden sei.

Männer wie Samadi fühlen sich vor allem jetzt, nach dem Abzug der Bundeswehrsoldaten, von Berlin im Stich gelassen. "Wenn ich getötet werde, ist die Bundesregierung dafür verantwortlich", schreibt er. Samadi soll sich jetzt, so haben es die Deutschen vor ihrem Abzug hinterlassen, an die Internationale Organisation für Migration (IOM) der Vereinten Nationen wenden. Denn die Bundesregierung hat bislang keinen funktionierenden administrativen Prozess für ihre zurückgelassenen Ortskräfte auf die Beine stellen können, sondern das Verfahren an diese UN-Organisation ausgelagert. Die jedoch, so schildert es eine andere Ortskraft, die noch in Masar-i-Scharif geblieben ist, habe aufgrund der Sicherheitslage ihre hochrangigen Beamten aus der Stadt ausgeflogen.

Und auch aus Kabul berichtet Samadi von mehr Problemen als praktischer Hilfestellung. Am Sonntag - in Afghanistan kein Wochenende - habe er mit einem Mitarbeiter der IOM telefoniert, der ihm gesagt habe, dass sie von deutscher Seite noch nicht ausreichend geschult worden seien. Erst in 15 bis 20 Tagen, so gibt Samadi die Worte des IOM-Beamten wieder, sei daran zu denken, sich mit den Papieren zu befassen - wenn die Deutschen ihnen bis dahin das Verfahren erklärt hätten. Weiß er, wo er sich für ein deutsches Visum bewerben könnte, wenn die IOM dann die erforderlichen Dokumente ausstellt? "Absolut nicht", klagt er. "Wir sind in völliger Unsicherheit zurückgelassen worden, ohne Unterstützung und Rat."

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"Diese Entscheidung bedauern wir natürlich"

Den Vorwurf, die Ortskräfte würden im Stich gelassen, weist die Bundesregierung zurück. Das "bisherige Verfahren und somit auch die eigenverantwortliche Ausreise der Ortskräfte" habe sich bewährt, behauptete Ende der Woche eine Sprecherin des federführenden Innenministeriums. Das Auswärtige Amt musste allerdings einräumen, dass keineswegs alles nach Plan läuft. Eine Sprecherin bestätigte, dass ein IOM-Büro speziell für die Ortskräfte der Deutschen in Masar-i-Scharif noch gar nicht eröffnet worden ist. Vor dem "Hintergrund der aktuellen Lageentwicklung" habe sich der beauftragte "Dienstleister" - gemeint ist damit: die IOM - entschieden, das Büro nicht in Betrieb zu nehmen. "Diese Entscheidung bedauern wir natürlich. Aber weil es um Sicherheitsinteressen geht, ist sie aus unserer Sicht nachvollziehbar", sagte sie. Einen Termin für die Öffnung des Büros konnte sie nicht in Aussicht stellen.

So beißt sich die Katze auf fürchterliche Weise in den Schwanz. Mit der schlechter werdenden Sicherheitslage wächst die Furcht der Menschen, die an der Seite der Deutschen gearbeitet haben - es wird aber auch immer schwieriger, sie in einem einigermaßen geregelten Verfahren in Sicherheit zu bringen. Wer für die Bundesrepublik gearbeitet hat und deshalb nun in Gefahr ist, soll eigentlich mit seiner engeren Familie nach Deutschland kommen können. Die Gefährdung könne formlos und unbürokratisch gegenüber dem aktuellen oder ehemaligen Arbeitgeber angezeigt werden, heißt es aus dem Bundesinnenministerium, was - wie der Fall Samadis zeigt - aus der Perspektive vor Ort ein bisschen weltfremd klingt.

Was ein FDP-Abgeordneter auf seine Anfrage hin erfuhr

Nach Angaben des Verteidigungsministeriums haben 446 Ortskräfte der Bundeswehr und ihre engsten Angehörigen - insgesamt 2250 Personen - ihre Reisedokumente immerhin noch vor dem Abzug direkt von der der Bundeswehr erhalten. Doch selbst jene, die bereits deutsche Visa im Pass haben, sind deshalb noch lange nicht in Sicherheit. "Wenn Sie nach Deutschland ausreisen wollen, nehmen Sie Kontakt zum IOM in Kabul auf", wurden sie in einem Infozettel belehrt. Doch dieses Büro ist nach Angaben des Auswärtigen Amtes überhaupt erst seit Donnerstag in Betrieb. Zum Teil wochenlang hingen Schutzsuchende deshalb in der Luft und konnten ihre Ausreise nach Deutschland nicht in Angriff nehmen. Und in jedem Fall gilt dann Punkt 4 des Infoblattes: "Sie tragen die Reisekosten für die gesamte Kernfamilie und müssen die Reise in Eigenregie organisieren."

Dazu passt, dass die Bundesregierung zwar eine Verantwortung und "Fürsorgepflicht" gegenüber den Ortskräften nicht bestreitet, sich ihnen gegenüber aber nicht juristisch in der Pflicht sieht. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des FDP-Bundestagsabgeordneten Wieland Schinnenburg hervor. "Eine Nachsorgepflicht gegenüber Ortskräften gibt es weder im Arbeits-, noch im Aufenthalts- noch im Völkerrecht", heißt es dort. Schinnenburg sagt, es sei "beschämend, wie Deutschland seine Verantwortung gegenüber seinen ehemaligen Mitarbeitern in Afghanistan kleinredet".

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Es geht um etwa 5000 Menschen

Empört über die Feststellung der Bundesregierung ist auch Marcus Grotian, der das "Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte" leitet. "Da ist mir das Blut in den Adern gefroren. Ich habe das immer anders gesehen", sagt er. Bei Grotian, der selbst 2011 als Soldat in der nördlichen Region Kundus stationiert war, melden sich viele verzweifelte Ortskräfte, die auf schnelle Hilfe hoffen. "Es reicht nicht, dass sich lauter Räder drehen. Die Räder müssen auch ineinandergreifen", sagt er. "Es geht jetzt darum, Leben zu schützen. Die Menschen müssen sofort an einen sicheren Ort ausgeflogen werden", verlangt Grotian. Dort könne das Visumsverfahren dann abgeschlossen werden.

Ganz neue Zahlen, wie viele Ortskräfte es schon nach Deutschland geschafft haben, gibt es nicht. Am 22. Juni waren es nach Angaben des Innenministeriums: 799. Hinzu kamen 2598 Familienangehörige. Im Innenministerium nimmt man an, dass etwa 2550 Ortskräfte eine Gefährdungsanzeige stellen können. Die Zahl war zuletzt größer geworden, weil von den Helfern bei Bundeswehr und Polizei jetzt nicht länger nur berücksichtigt wird, wer in den vergangenen zwei Jahren beschäftigt war. Die Frist reicht nun zurück bis 2013. Voraussetzung für eine Aufnahmezusage und eine Ausreisemöglichkeit bleibe jedoch, heißt es aus dem Innenministerium, "stets das Vorliegen einer individuellen Gefährdung".

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