Afghanistan:Mörderischer Urnengang

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Wächterinnen der Wahl: Mit kritischem Blick beobachten diese Frauen in Kabul die Auszählung der Stimmen. (Foto: Mohammad Ismail/Reuters)

Die Parlamentswahl in dem Bürgerkriegsland konnte erst drei Jahre später als geplant abgehalten werden. Warum etliche Afghanen trotz Lebensgefahr und Organisationschaos ihre Stimmen abgaben.

Von Tobias Matern

Sie hat mehrere Stunden geduldig gewartet. Dann endlich kamen die Helfer, öffneten die Türen der Schule, ließen die Wähler an die Urnen. Und die vielen Menschen, die wie sie geduldig ausgeharrt hatten, strömten hinein. Nazifa Omari ist stolz, das merkt man ihr an: "Ich bin glücklich, dass ich meine Stimme abgegeben habe", sagt sie. Die 18-Jährige hat zum ersten Mal in ihrem Leben gewählt, hier in der Abdul Ahmad Jawed High School im Norden Kabuls. Omari will einen der 249 Abgeordneten in das Unterhaus befördern. Ihr wichtigstes Anliegen: eine Zukunftsperspektive für ihre Generation.

Knapp neun Millionen Afghanen waren am Wochenende aufgerufen, die Mandatsträger für das "Haus des Volkes" zu bestimmen. Mehr als 2500 Kandidaten hatten sich zur Wahl gestellt. Wie viele der registrierten Wähler sich tatsächlich wie Nazifa Omari an die Urnen getraut haben, können die Behörden erst einmal nicht genau beziffern. Von 1,5 Millionen spricht zunächst das Innenministerium, von vier Millionen die Wahlkommission. Nicht nur zwischen diesen Zahlen liegen Welten. Auch der Mut, den Menschen wie Nazifa Omar aufbringen, um angesichts der Todesdrohungen der Taliban ein Zeichen für die Demokratie zu setzen, und der chaotische Ablauf lassen sich nur schwer in Einklang bringen. Schon im Wahlkampf hatten Extremisten neun Kandidaten ermordet, jede Schule, in der am Wahltag Urnen stünden, zu einem potenziellen Ziel erklärt.

Es die sechste Abstimmung in Afghanistan seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001. Und auch dieser Urnengang genügt nicht den Mindeststandards, um von einer fairen, geordneten und vor allem sicheren Wahl sprechen zu können. Zu diesem Fazit kommen nicht nur kritische, unabhängige Beobachter: Die landesweite Beteiligung sei leider niedrig, die Unregelmäßigkeiten und das Missmanagement von Seiten der Wahlbehörde hätten einen geregelten Ablauf unmöglich gemacht, fasst es ein hochrangiger Regierungsbeamter in Kabul zusammen. Und ein anderer Beobachter in der Hauptstadt sagt, der Wahltag habe wieder einmal gezeigt, dass "wir in einem Land leben, in dem Menschenleben keinen Wert haben". Auch wenn jeder Tropfen Blut, der an Wahltagen vergossen werde, einer zu viel sei, müsse der demokratische Prozess fortgesetzt werden. Nur so könne der Staat Legitimation gewinnen.

Das Innenministerium spricht vorerst von 28 Toten - doch es waren wohl viel mehr

Nach offiziellen Angaben waren 70 000 Sicherheitskräfte am Tag der Abstimmung im Einsatz. Dennoch muss der Innenminister in einer ersten Bilanz am Samstagabend von 28 Menschen sprechen, die Anschlägen der Extremisten zum Opfer gefallen seien. Die New York Times, die sich auf Mitarbeiter von Sicherheits- und Gesundheitsbehörden beruft, berichtet von mindestens 78 Toten. Und am Sonntag, als die Wahl fortgesetzt wird, sterben bei einer Explosion in der Provinz Nangarhar elf Menschen.

Nazifa Omari verdrängt die bitteren Fakten dieser Wahl nicht, dennoch will sie lieber etwas anderes in den Mittelpunkt stellen: "Unser Alltag ist bestimmt von Gefahren, ob wir nun in die Schule oder nur spazieren gehen", sagt sie. "Aber wir können doch nicht einfach zu Hause bleiben und nichts tun. Wenn wir den Gefahren nicht trotzen, werden wir in jedem Lebensbereich unserer Rechte beraubt."

Auch Ahmad Wisal Latify, 23, Absolvent einer Kabuler Universität und nun arbeitslos, hat seine Stimme trotz der bedrohlichen Lage abgegeben. Er beschreibt einen chaotischen Ablauf: Die Wahlstation sei überfüllt und die Unterlagen seien zu knapp bemessen gewesen. Das Gerät, das biometrische Daten sammele, um Wählerbetrug zu verhindern, habe nicht richtig funktioniert. Dennoch, sagt Latify, sei etwas anderes wichtiger: "Trotz der Angst vor den Taliban bin ich heute gekommen, um meine Bürgerpflicht zu erfüllen."

Manche junge Afghanen hoffen, ein Frieden mit den Taliban werde alle Probleme lösen

Diese Bürgerpflicht sollten etliche Afghanen auch am Sonntag - entgegen der ursprünglichen Planung - noch erfüllen können. 400 der etwa 5000 Wahllokale öffneten erneut oder zum ersten Mal, weil es dort am Samstag technische Probleme gegeben hatte. In zwei der 34 afghanischen Provinzen mussten die Behörden den Abstimmungstag indes komplett verschieben: Im südlich gelegenen Kandahar soll erst in einer Woche gewählt werden, nachdem am Donnerstag der Polizeichef einer Attacke der Extremisten zum Opfer gefallen war. Die Konflikte in der Provinz Ghasni waren so massiv, dass die Abstimmung hier zunächst komplett ausfiel. Dabei geht diese Wahl in Afghanistan ohnehin schon drei Jahre später als geplant über die Bühne, so massiv waren die Probleme.

Beobachter sehen in der Parlamentsabstimmung vor allem einen Testlauf für die Präsidentschaftswahl, die im April stattfinden soll. Nach wie vor ist das Parlament gegenüber dem Präsidenten relativ machtlos, bestimmt der Mann im Präsidentenpalast die Geschicke des Landes. Staatschef Ashraf Ghani, ein geachteter Technokrat, hat aber einen wesentlichen Teil seiner Präsidentschaft damit verbringen müssen, die heillos zerstrittene Regierung zusammenzuhalten.

Doch vor allem junge Wähler wie Nazifa Omari und Ahmad Wisal Latify wollen sich von dem Gefühl, ihre Politiker könnten ihnen keine Lösungen für die drängenden Probleme Afghanistans anbieten, nicht überwältigen lassen. "Wenn ich mir die Lage in meinem Land anschaue, kann ich mit Gewissheit sagen, dass kein Politiker seine Sache bislang gut gemacht hat", sagt Nazifa Omari. Die Parlamentarier müssten nun ihren Teil dazu beitragen, ihrer Generation eine Jobperspektive zu bieten und für das Allgemeinwohl zu arbeiten, nicht für den eigenen Vorteil. Nicht alle Abgeordneten hätten in der Vergangenheit diese Minimalanforderung erfüllen können.

Wenn es den Politikern gelinge, einen Frieden mit den Taliban auszuhandeln, werde alles andere in Afghanistan automatisch "in die richtige Richtung gehen", ist sich Ahmad Wisal Latify sicher. Und natürlich glaube er daran, dass dies gelinge - schließlich habe er keine andere Wahl, als optimistisch zu bleiben.

Ein afghanischer Journalist in Kabul hat diese Geschichte mitrecherchiert. Au s Furcht vor Repressalien d urch die Taliban möchte er nicht als Co-Autor genannt werden.

© SZ vom 22.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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