Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:Kalkül mit Sprengsatz

Die Taliban wollen ihre Macht demonstrieren. Parallel zu Gesprächen mit der Regierung zünden sie Bomben.

Von Moritz Baumstieger

Am Morgen nach der Explosion versammelten sich Anwohner am Anschlagsort und schrien ihre Wut heraus. In der Nacht zum Dienstag war hier eine Bombe explodiert, vor den Toren des Viertels "Green Village" in Afghanistans Hauptstadt Kabul, in dem viele internationale Organisationen ihre Stützpunkte und deren Angestellte ihren Wohnsitz haben. Mindestens 16 Menschen starben, 119 wurden verletzt - allesamt Afghanen. Die Ausländer, denen laut einer Selbstbezichtigung der islamistischen Taliban der Anschlag gelten sollte, leben gut geschützt hinter hohen Mauern, dennoch brachte die Polizei etwa 400 von ihnen vorsorglich in Sicherheit.

Auch wenn Anschläge wie dieser Kabul zuletzt regelmäßig erschütterten, sticht die Tat von Dienstag heraus. Einmal, weil die Wut der Demonstranten nach Berichten des afghanischen Senders Tolo-TV weniger den Urhebern des Anschlags galt, den Taliban, sondern deren Ziel: Die internationalen Organisationen mit ihren ausländischen Mitarbeitern sollten endlich aus dem mitten zwischen Wohngebieten liegenden "Green Village" verschwinden, forderten die Anwohner, denn so würden sie selbst immer wieder Ziel von Angriffen. Später gelang es einigen, auf das Gelände vorzudringen und Feuer zu legen. Zum zweiten Mail binnen weniger Stunden sendeten Kabuls TV-Sender Bilder mit Rauch über "Green Village".

Viele Afghanen fürchten, dass ein tragfähiger Frieden mit den Extremisten nie möglich wird

Vor allem aber sorgte der Zeitpunkt der neuesten Taliban-Attacke für Aufmerksamkeit: Während der Selbstmordattentäter seinen mit Sprengstoff beladenen Traktor zum Anschlagsort steuerte und sich dort zudem bewaffnete Kämpfer bereit machten, strahlte der Sender Tolo-TV gerade ein Interview mit dem US-Sondergesandten für Afghanistan aus. In ihm legte Zalmay Khalilzad die Eckpunkte eines Abkommens mit den Taliban dar, die er zuvor schon dem Präsidenten Aschraf Ghani präsentiert hatte: Nach etwas mehr als einem Jahr Verhandlungen hatte sich Khalilzad mit einer Taliban-Delegation in Katars Hauptstadt Doha auf einen Teilabzug der US-Truppen aus Afghanistan verständigt.

"Wir haben eine grundsätzliche Übereinkunft erzielt", sagte der in Afghanistan geborene US-Unterhändler dem Moderator in der Landessprache Dari, "dass wir fünf Militärbasen binnen 135 Tagen räumen, in denen wir momentan präsent sind." 5000 Soldaten würden die USA abziehen, die im Land verbleibenden sollten dann nur noch gegen den lokalen Ableger des sogenannten Islamischen Staats vorgehen.

Im Gegenzug wollen die Taliban garantieren, dass ihr Land kein sicherer Aufenthaltsort mehr für Terroristen werde, an dem Attacken gegen die USA oder andere Staaten geplant werden. Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban, dem US-Präsident Donald Trump noch zustimmen muss, sollen innerafghanische Friedensgespräche folgen.

Wer diese schwierige Aufgabe auf Regierungsseite übernehmen wird, ist unklar. Ende September soll ein neuer Präsident bestimmt werden, wenn die Wahlen nicht wegen der sich verschlechternden Sicherheitslage erneut verschoben werden. Und wie groß die Bereitschaft der nächsten Regierung zu Kompromissen mit den Taliban in Kabul sein wird, ist ebenfalls nicht sicher: Viele Afghanen fürchten, dass ein tragfähiger Frieden mit den Islamisten nie möglich sein wird und dass Khalilzads Mission vor allem einem Ziel galt: Im Präsidentschaftswahlkampf 2020 will sich Trump als der Mann präsentieren, der die US-Truppen aus Afghanistan heimgeholt hat. Wie es dort aber weitergeht, sei ihm ziemlich egal, so die Befürchtungen vieler Taliban-Gegner.

Die Islamisten selbst geben sich jedenfalls alle Mühe, kurz vor dem erwarteten Abschluss eines Abkommens mit den USA einen Eindruck neuer Stärke zu vermitteln. Vor der Attacke auf "Green Village" überrannten ihre Kämpfer am Wochenende die Regionalhauptstädte Kundus im Norden des Landes und die Stadt Pul-i-Khumri in der Provinz Baghlan, blockierten zudem wichtige Fernstraßen. "Wir verstehen, dass Friedensgespräche stattfinden", sagte Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid der Nachrichtenagentur AP auf die Frage, warum seine Miliz zu diesem sensiblen Zeitpunkt eine Offensive startet. Aber die Regierung müsse "auch verstehen, dass wir nicht schwach sind. Wenn wir in Gespräche gehen, gehen wir aus einer starken Position. Sie sollten merken, dass sie die Taliban nicht stoppen können".

Obwohl sein Präsident die Übereinkunft noch nicht gebilligt hat, unterrichtete US-Außenminister Mike Pompeo am Dienstag in Brüssel die Spitzen der Nato. Laut Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg steht das Bündnis voll hinter den Friedensbemühungen und auch weiter zu seiner Zusage, die afghanischen Sicherheitskräfte zu unterstützen. Einige Mitgliedsländer hatten Befürchtungen geäußert, dass ein vorschneller Abzug zu einer weiteren Destabilisierung des Landes führen könnte.

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SZ vom 04.09.2019
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