Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:In Berlin reiht sich eine Krisensitzung an die andere

Die Lage in Afghanistan ändert sich so schnell, dass die Wirklichkeit die deutschen Planungen für die Evakuierungen zu überholen droht. Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock kritisiert die zögerliche Haltung der Bundesregierung bei der Evakuierung afghanischer Ortskräfte.

Von Constanze von Bullion und Mike Szymanski, Berlin

20 Jahre nach ihrem Sturz haben die Taliban die Macht in Afghanistan wieder an sich gerissen. Am Sonntag erreichten die islamistischen Truppen die Hauptstadt Kabul und besetzten am Abend den Präsidentenpalast. Die Regierung leistete keine militärische Gegenwehr, Präsident Aschraf Ghani hatte das Land wenige Stunden zuvor verlassen. Afghanistans Innenminister, Abdul Sattar Mirsakwal, hatte erklärt, man habe mit den Taliban einen "friedlichen Übergang" vereinbart. Ein führender Repräsentant der Taliban, Mullah Baradar, erklärte in einer Videobotschaft den Sieg der Islamisten.

Während in der afghanischen Hauptstadt nun Tausende Geflüchtete festsitzen und Zivilisten wie Soldaten um ihr Leben fürchten, versuchen westliche Nationen, Landsleute und ehemalige Helfer in Sicherheit zu bringen. Auch die Bundesregierung musste ihr Tempo hier erheblich erhöhen. Zunächst hieß es, die Bundeswehr fliege ab Montag nach Kabul, um diplomatisches Personal und ehemalige afghanische Ortskräfte zu holen. Die deutsche Botschaft wurde am Sonntag geschlossen.

Angesichts des Zeitdrucks entschied die Bundesregierung, noch am Sonntag einen Teil des deutschen Botschaftspersonals auszufliegen. "Die Machtübernahme der Taliban steht unmittelbar bevor", sagte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) am Abend. Oberste Priorität habe für die Bundesregierung nun die Sicherheit deutscher Staatsbürger, aber "genauso" die Sicherheit afghanischer Mitarbeiter deutscher Behörden.

Das deutsche Botschaftspersonal, das sich zunächst offenbar mit Entwicklungshelfern in der US-Botschaft in Kabul versammelt hatte, wurde am Sonntag zum Flughafen Kabul gebracht. Dieser wird von US-Truppen kontrolliert. Mehrere Bundeswehr-Militärtransporter vom Typ A400M sollen die Mitarbeiter in den nächsten Tagen ausfliegen, voraussichtlich in die usbekische Hauptstadt Taschkent, die als temporärer Lufttransportstützpunkt dienen wird. Dort können Chartermaschinen für den Weiterflug nach Deutschland eingesetzt werden. 200 Fallschirmjäger sollen die Mission absichern.

Berlin zeigt sich vom schnellen Siegeszug der Kämpfer überrascht

Die Bundesregierung, der es über Wochen nicht gelungen ist, eine effektive Exit-Strategie für afghanische Helfer deutscher Behörden vorzubereiten, zeigte sich überrascht vom schnellen Siegeszug der Taliban. Die Bedrückung sei groß. Man habe mehr Gegenwehr afghanischer Regierungstruppen erwartet. "Was im Moment in Afghanistan geschieht, ist ein Desaster", sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) der Augsburger Allgemeinen.

Bei Krisensitzungen in Berlin und beim Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam wurde zunächst erwogen, ein Krisenunterstützungsteam zu entsenden, das in der Lage ist, eine Evakuierung vorzubereiten. Nach SZ-Informationen stellte sich die Bundeswehr auf eine niedrige dreistellige Zahl von Personen ein, die in Sicherheit gebracht werden müssen - im Kern Botschaftspersonal und im Land verbliebene Deutsche, zusammen etwa 150 Frauen und Männer. Dazu kommen sollen noch afghanische Ortskräfte, die für deutsche Behörden tätig waren. In der Regierung war kürzlich von mehr als 4000 noch in Afghanistan befindlichen Helfern die Rede, Angehörige mitgerechnet. Es werde immer schwieriger, zu ihnen Kontakt aufzunehmen.

Die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann zeigte sich angesichts der dramatischen Lage verstört über das zögerliche Verhalten der Regierung, die zunächst erst am Montag mit Flügen starten wollte. Die Rettungsmission müsse "umgehend" anlaufen. In den Hintergrund geriet unterdessen das Mandat des Bundestags, das für einen solchen militärischen Einsatz nötig ist. Bisher liegt es nicht vor. Bei Gefahr im Verzug erlaubt das Parlamentsbeteiligungsgesetz allerdings eine nachträgliche Billigung der militärischen Mission durch das Parlament.

Auch die Grünen haben hier keine Einwände und drücken aufs Tempo. "Viel zu lange hat die Bundesregierung die Augen vor der Realität verschlossen", sagte Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock der SZ. "Das rächt sich jetzt auf schmerzlichste Weise." Das Leben von Botschaftsangehörigen, Ortskräften und afghanischen Frauenrechtlerinnen sei akut bedroht. "Die Lage ist dramatisch, das Zeitfenster schließt sich."

Baerbock verwies auf 90 afghanische Frauenrechtlerinnen, die nach Angaben der Hilfsorganisation Medica Mondiale mit insgesamt 300 Angehörigen in Kabul festsäßen. Da sie nicht als Ortskräfte gelten, sind sie nach deutschem Reglement nicht zur Evakuierung vorgesehen. Der Schutz der Frauen dürfe nicht an "bürokratischen Definitionen" scheitern, sagte Baerbock. Linken-Chefin Janine Wissler nannte den Umgang mit afghanischen Ortskräften auf Twitter "schäbig".

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