Süddeutsche Zeitung

Humanitäre Hilfe:Afghanistans Not stürzt den Westen ins Dilemma

Angesichts der großen Not im Land ist humanitäre Hilfe dringend erforderlich, doch niemand weiß, ob sich die Taliban an getroffene Abmachungen auch halten werden.

Von Tobias Matern

Sie haben Briefe bekommen, unterschrieben von den neuen Machthabern in Kabul. Darin erklären die Taliban, die Arbeit solle wieder aufgenommen werden. Seit dem 15. August hat Care wie andere Hilfsorganisationen auch Programme in Afghanistan auf Eis gelegt. Nun beginnen die Mitarbeiter wieder, im Büro zu erscheinen und sich auf die neue Realität einzustellen.

Die neue Realität: Der Westen hat das Land verlassen, die Taliban kontrollieren die Hauptstadt und mit minimalen Ausnahmen das ganze Land. An Alltag ist für die Afghaninnen und Afghanen nach den Wirren der vergangenen Wochen nicht zu denken. Aber sie sei zumindest "vorsichtig optimistisch", sagt Marianne O'Grady, stellvertretende Länderdirektorin von Care Afghanistan in einem Telefonat, dass die Hilfsorganisationen unter dem Schirm der Vereinten Nationen bald wieder ihre Arbeit aufnehmen könnten. Schließlich gelte für sie eine strikte Neutralität: "Wir sind dort nicht für politische Verhandlungen, wir sind dort, um Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen." Aus O'Gradys Sicht drängt die Zeit. Die Lage für die Menschen in Afghanistan sei "düster", es drohe eine massive Hunger- und Versorgungskrise.

Nicht erst seit der Machtübernahme der Taliban gibt es in Afghanistan massive humanitäre Schwierigkeiten: Dürren plagen das Land schon seit Längerem, dazu kommen die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Und der Staatshaushalt hing vor allem am Tropf der internationalen Gemeinschaft. Eine auf eigenen Füßen stehende Wirtschaft ist in den vergangenen 20 Jahren nicht entstanden.

Die Staatengemeinschaft sucht nun nach einem Weg für eine an Bedingungen geknüpfte Kooperation mit den Taliban, ohne sich von den neuen Machthabern vorführen zu lassen: Das Geld ist der letzte Hebel für Einfluss auf die Taliban. Aber etliche Zahlungen, etwa von der Weltbank oder der Europäischen Union, sind derzeit ausgesetzt, bis klar wird, in welcher Form die Islamisten das Land führen werden.

Jedem zweiten Kind droht Unterernährung

Am Mittwoch gaben die Taliban zumindest bekannt, dass sie bald eine Einheitsregierung vorstellen wollen. Ihr Anführer Hibatullah Achundsada soll demnach der Regierung vorstehen, wie die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet. Mullah Abdul Ghani Baradar, einer von Achundsadas Stellvertretern, soll wahrscheinlich die Regierungsgeschäfte führen.

Zum jetzigen Zeitpunkt sei es für die internationale Gemeinschaft noch zu früh, die politische Führung anzuerkennen, sagte Ahmed Rashid, einer der führenden Taliban-Experten. "Sie sollten erst ein vernünftiges Kabinett vorstellen und sich dann darum bemühen, dass die eingefrorenen internationalen Gelder freigegeben werden." Zudem müssten sie erst unter Beweis stellen, dass sie zu guter Regierungsführung in der Lage seien. "Daran habe ich meine Zweifel", sagte Rashid.

Doch die Zeit drängt, um eine Katastrophe abzuwenden. UN-Generalsekretär António Guterres mahnt zur Eile, der Bevölkerung müsse dringend geholfen werden. Er warnte nach dem vorläufigen Ende der westlichen Evakuierungsaktion und dem Abzug aller Soldaten vom Kabuler Flughafen vor dem völligen Zusammenbruch der Grundversorgung in dem Land. "Eine humanitäre Katastrophe bahnt sich an", sagte Guterres am Dienstagabend in New York. "Fast die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans - 18 Millionen Menschen - sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben. Jeder dritte Afghane weiß nicht, woher seine nächste Mahlzeit kommen wird. Mehr als die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren wird im nächsten Jahr voraussichtlich akut unterernährt sein."

Der Westen steht nun vor einem Dilemma: Einerseits soll die afghanische Zivilbevölkerung weiterhin unterstützt werden, auch um Menschen davon abzuhalten, in Richtung Europa zu fliehen. Andererseits geht dies nur in Kooperation mit den Taliban, die sich zwar ein gemäßigteres Antlitz geben, aber erst noch beweisen müssen, dass sie der Rhetorik auch entsprechende Taten folgen lassen. "Wir sind sehr besorgt über die Situation in Afghanistan und die Auswirkungen auf Entwicklungsperspektiven für das Land, vor allem für Frauen", sagte eine Sprecherin der Weltbank.

Auch wenn sich die politische Führung der Taliban gemäßigter gibt, bestehen Zweifel, dass die niedrigen Ränge der Islamisten sich an die Vorgaben halten werden. So berichten Frauen aus Afghanistan, dass den neuen Machthabern nicht zu trauen sei. Eine Anwältin aus der westlich gelegenen Provinz Herat, die aus Furcht vor Repressalien namentlich nicht genannt werden will, sagte in einem Telefonat, dass ihr Leben wie das von Millionen ihrer Landsleute auf den Kopf gestellt worden sei: "Die Menschen haben viele Probleme: Die Banken sind noch geschlossen, die Regierungsbüros ebenfalls, und viele haben ihr Jobs verloren", sagte sie.

Auf den Basaren habe sich das Angebot an Nahrungsmitteln deutlich reduziert, die Preise hätten sich zum Teil aber verdoppelt. Ihrer Arbeit könne sie nicht mehr nachgehen, die Taliban hätten ihr deutlich gemacht, "dass wir zu Hause bleiben müssen".

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