Afghanistan:Wählen gehen, trotz Tod und Terror

Afghanistan: Ganz Kabul hängt voller Plakate: Wegen Streitereien ums Wahlrecht findet die Abstimmung in Afghanistan drei Jahre später als geplant statt.

Ganz Kabul hängt voller Plakate: Wegen Streitereien ums Wahlrecht findet die Abstimmung in Afghanistan drei Jahre später als geplant statt.

(Foto: AP)
  • Mit drei Jahren Verspätung wird am Samstag in Afghanistan gewählt. Mehr als 2500 Kandidaten treten an.
  • Doch 17 Jahre nach dem Sturz der Taliban bedrohen die Extremisten noch immer alle, die sich an die Urnen trauen.
  • Gerade junge Wähler wollen trotzdem gehen. Sie haben von einem Schulsystem profitiert, in dem es noch an vielem mangelt, das ihnen aber eine kleine Hoffnung auf ein besseres Leben gibt.

Von Tobias Matern

Kämpferisch klingt sie, auch ein bisschen stolz. "Natürlich habe ich mich registrieren lassen", sagt Najia Asghari und zeigt den Sticker in ihrem Ausweis. Der belegt, dass sie am Samstag zur Wahl gehen darf. Die 18-Jährige weiß genau, wem sie ihre Stimme geben wird: "Ich wähle eine Kandidatin, die sich für meine Rechte einsetzt, die den Kampf aufnimmt, um die Ungleichheit auszumerzen, die Frauen hier immer noch erleben."

Najia Asghari lebt in Kabul, sie besucht eine Oberschule. Dass sie im Alltag keine Gleichberechtigung erfährt, beschreibt sie anhand ihre Schulwegs: Nahezu jeden Tag werde sie da "von den Jungs belästigt". Besser werde es erst, sobald sie und ihre Freundinnen in den Klassenzimmern ankommen. "Da fühlen wir uns in Sicherheit und haben keine Probleme mehr."

An diesem Samstag darf Najia Asghari zum ersten Mal wenigstens ein bisschen über ihre Zukunft mitbestimmen, wenn die Afghanen ein neues Parlament wählen. Vor einigen Jahren stilisierte der Westen solche Abstimmungen noch zu einem Beleg des demokratischen Fortschritts am Hindukusch. Nun sind die Töne deutlich gedämpfter. Eine Abstimmung, die nach endlosen Streitereien um das Wahlrecht drei Jahre später als geplant abgehalten wird, taugt nicht als Erfolgsgeschichte.

Wer sich am Samstag an die Urne traut, werde ins Visier genommen, erklären die Taliban

Das passt ins gesamte Bild des westlichen Afghanistan-Einsatzes: 17 Jahre nach dem Einmarsch und dem Sturz der Taliban ist das Land nach wie vor weit von Stabilität entfernt. Die Extremisten erklären wie vor jeder Wahl, potenziell jeden ins Visier zu nehmen, der sich am Samstag an die Urnen traut.

Das sind keine leeren Drohungen. Bereits im Wahlkampf haben die Extremisten neun Parlamentskandidaten umgebracht. Trotzdem gibt es ein hartes Ringen um die 249 Sitze im Unterhaus: Mehr als 2500 Kandidaten treten an. Parlamentarier zu sein, ist lukrativ, das Gehalt liegt monatlich bei umgerechnet mehr als 2000 Euro - das verdienen die wenigsten Afghanen im Jahr. Die Abgeordneten schließen sich nicht zu starken Parteien zusammen, sondern stellen ihren Charakter in den Mittelpunkt des Wahlkampfes - und ihre ethnische Zugehörigkeit. Diese sind für viele Afghanen nach wie vor die zentralen Kriterien für die Stimmabgabe. 54 000 Sicherheitskräfte sollen für einen einigermaßen geregelten Ablauf sorgen.

Najia Asghari ist eine von knapp neun Millionen Afghanen, die sich für diese Wahl registriert haben. Aus Sicht des Kabuler Analysten Haroun Mir wäre es ein Erfolg, wenn die Abstimmung "in den meisten Teilen des Landes abgehalten werden kann", um den Taliban zu beweisen, dass die Menschen ihrer Angstmacherei trotzen. Najia Asghari bemüht sich, den ganzen Wahnsinn nicht an sich heranzulassen. Vielleicht bleibt die Schülerin auch deshalb verhältnismäßig gelassen, weil sie ein Leben in Frieden und Sicherheit nicht kennt - wie ihre ganze Generation.

Asghari wurde kurz vor den Anschlägen vom 11. September und dem Sturz der Taliban geboren. Nicht nur männliche Beschimpfungen, sondern auch die Furcht vor Selbstmordattacken begleitet sie jeden Tag auf dem Schulweg. "Die Sicherheitslage beeinflusst das Leben aller Afghanen, sämtliche Bereiche sind davon betroffen", sagt sie. Nur wenn es der Regierung gelinge, die Gewalt in den Griff zu bekommen, könne sich Afghanistan weiterentwickeln.

Doch Friedensgespräche mit den Taliban sind noch nicht in Sicht, auch wenn Präsident Ashraf Ghani den Islamisten Zugeständnisse machen will, um sie an den Verhandlungstisch zu bekommen. Auch die USA suchen Kontakt zu Vertretern der Aufständischen, um den längsten Kriegseinsatz der US-Geschichte zu beenden.

Wenn im Westen Bilanz gezogen wird zum Einsatz am Hindukusch, kommt von den Regierungen immer seltener der Hinweis auf demokratische Errungenschaften. Dafür wird eine andere vermeintliche Erfolgsgeschichte bemüht: "Der Wiederaufbau des afghanischen Schulsystems ist eines von zahlreichen greifbaren Ergebnissen des internationalen Afghanistan-Einsatzes", betont etwa das Auswärtige Amt in Berlin. Die Schulbildung sei "auf einem höheren Niveau als je zuvor in der afghanischen Geschichte".

Die Generation 9/11 kennt die Talibanherrschaft nur aus Erzählungen

Tatsächlich machen bald die ersten Jugendlichen der Generation 9/11 Abitur. Sie kennen die Herrschaft der Steinzeitislamisten nur aus den Erzählungen ihrer Eltern. Najia Asghari gehört zu einem Teil der afghanischen Jugend, für den Bildung trotz aller Hindernisse ein Zukunftsversprechen darstellt. Asghari will Ärztin werden, weil sie darin die Möglichkeit sieht, ihrem Land beim Aufbau zu helfen und Leid zu lindern.

Ihr Abschlussjahrgang steht für einen klar erkennbaren Wandel: Als die Taliban regierten, in den Jahren von 1996 bis 2001, durften Mädchen nicht einmal in die Schule gehen. Nun machen auch Schülerinnen ihre Abschlüsse, obwohl von Gleichberechtigung keine Rede sein kann. "Im Vergleich zu der Zeit, als die Taliban an der Macht waren, ist die Situation für Mädchen sehr gut", sagt Anisa Asghari, Najias Mutter. Doch die Sicherheitslage müsse besser werden, "damit die Kinder ohne Angst leben können". Immer noch gibt es in Afghanistan Attacken auf Schulen, wie etwa im August in Kabul. Der sogenannte Islamische Staat reklamierte den Anschlag, bei dem mindestens 34 Menschen ums Leben kamen, für sich.

Auch bei der Qualität der Bildung gibt es noch Luft nach oben. Ghulam Ali leitet in der nördlichen Provinz Kundus eine Schule. Er sagt: Im Vergleich zu früher habe sich die Situation zwar deutlich verbessert, fließe auch mehr Geld in Schulen und Universitäten. Aber es mangele an Lehrern, zahlreiche Klassen an seiner Schule hätten kein Dach über dem Kopf, weil das Geld für den Ausbau fehle. "Und die Schüler werden es nach dem Schulabschluss schwer haben, ihre gewünschten Berufe zu ergreifen, weil ihr Wissensstand niedrig ist", sagt Ali.

Die Kinder, die nicht zur Schule gehen können, "tun mir leid", sagt der Vizebildungsminister

Aber immerhin: Ghulam Ali, der monatlich umgerechnet 125 Euro verdient, kann den Kindern zumindest regelmäßig Unterricht anbieten. Das ist nicht selbstverständlich. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) hat im Sommer eine Studie veröffentlicht. Demnach gehen 3,7 Millionen von 9,4 Millionen schulfähigen Kindern in Afghanistan nicht zur Schule. Nach Recherchen der US-Regierung zählt das Kabuler Bildungsministerium zudem etwa 20 Prozent Jungen und Mädchen als Schulgänger, die zwar eingeschrieben sind, aber nicht zum Unterricht erscheinen.

Auch wenn Statistiken in einem Land, in dem es kein funktionierendes Meldewesen gibt, mit Skepsis gelesen werden müssen, kann man davon ausgehen, dass nur etwa die Hälfte aller afghanischen Kinder zur Schule gehen.

Die Regierung in Kabul redet die Probleme nicht klein. Afghanistan habe etwa 200 000 Lehrer, es müssten dringend 45 000 weitere Stellen besetzt werden, erklärt das Bildungsministerium. Doch es sei schwierig, Personal zu finden. Die Kinder, die in Afghanistan nicht in die Schule gehen könnten, "tun mir leid", sagt Vizebildungsminister Mohamad Ibrahim Shinwari unumwunden.

Die Sicherheitslage, die mangelnde Infrastruktur und kulturelle Barrieren seien die Gründe für die Abstinenz. Manche Familien lassen noch immer ihre Mädchen nicht in die Schule, andere schicken ihre Kinder zum Arbeiten, um das karge Familieneinkommen aufzubessern. Aber Shinwari besteht darauf, dass im afghanischen Bildungswesen "schon viel erreicht" worden sei.

Das findet auch Najia Asghari. Sie weiß, dass die Parlamentswahl die Unwägbarkeiten in ihrem Leben nicht beseitigen wird. Ihr fehlen "wirtschaftliche Perspektiven. Es fühlt sich sehr ungewiss an, ob ich mein Ziel, Ärztin zu werden, wirklich erreichen kann". Trotzdem, sagt Najia. Sie könne zumindest ein Ziel formulieren.

Ein afghanischer Journalist in Kabul hat diese Geschichte mitrecherchiert. Aufgrund der Befürchtung von Repressalien durch die Taliban möchte er nicht als Co-Autor genannt werden.

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