Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:Genau hinschauen

Biden will prüfen, ob die Sicherheitslage und der Stand der Friedensverhandlungen mit den Taliban einen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan wirklich zulassen. Das dürfte heißen: So schnell sind die Amerikaner nicht weg.

Von Tobias Matern, München

Es ist der längste Krieg in der US-Geschichte, eigentlich sollte er im April enden. Doch die neue Regierung von Präsident Joe Biden will ein entsprechendes Übereinkommen mit den afghanischen Taliban überprüfen - und das dürfte auf eine Verlängerung des Einsatzes hinauslaufen, der unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begonnen hat.

Seit von Donald Trump entsandte Diplomaten vergangenes Jahr in Doha mit den Taliban einen Fahrplan für den Abzug ausgehandelt haben, ist die Gewalt in Afghanistan keineswegs weniger geworden - dabei war genau dieser Teil des Abkommens eine Zusage der Taliban. Die Islamisten attackieren zwar keine US-Truppen mehr, aber dafür richten extremistische Gruppen ihre Attacken gegen afghanische Sicherheitskräfte und Personen des öffentlichen Lebens. Das ist offenbar die Methode der Taliban, um sich für die Verhandlungen mit der afghanischen Regierung über eine künftige Machtteilung im Land in eine noch bessere Position zu bringen.

Verhandlungen mit Konstruktionsfehler

Das US-Taliban-Abkommen hatte einen Konstruktionsfehler: Die afghanische Regierung durfte auf Drängen der Taliban nicht an den Gesprächen teilnehmen. Die Aufständischen wollten erst mit Washington und dann mit der Kabuler Regierung verhandeln. Das hat sie in eine taktisch optimale Position gebracht; tatsächlich hat Ex-Präsident Donald Trump wenig Zweifel daran gelassen, dass er alle US-Truppen aus Afghanistan abziehen will. Doch mit dem Machtwechsel scheint sich in Washington auch wieder der Blick zu schärfen für die Realität in Afghanistan, und die sieht ziemlich düster aus. Einige Beobachter gehen fest davon aus, dass, wenn die USA ihr letztes Schutzkontingent abziehen, die Taliban nicht weiter mit der Regierung von Präsident Aschraf Ghani verhandeln werden, sondern gewaltsam versuchen könnten, die ganze Macht an sich zu reißen.

Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan teilte nun seinem afghanischen Kollegen mit, die neue Regierung werde genau hinschauen, ob sich die Taliban an ihren Teil der Vereinbarung hielten. Sullivan hat nach Angaben der US-Regierung erklärt, es solle unter anderem überprüft werden, ob sich die Taliban bemühten, terroristische Gruppierungen zu trennen, die Gewalt im Land zu reduzieren und ob sie mit der Regierung in Kabul ernsthaft über eine dauerhafte Friedenslösung verhandelten. Wenn es Bidens neue Mannschaft ernst meint mit dieser Ankündigung, dürfte sich das Abzugsdatum Ende April für die USA und in ihrem Gefolge die anderen westlichen Truppen kaum einhalten lassen.

Zwei Richterinnen in Kabul ermordet

Bereits in der vergangenen Woche hatten die USA erkennen lassen, dass sie ihren zurückhaltenden Ton gegenüber den Taliban wieder ändern. Nach der Ermordung zweier Richterinnen in Kabul hatte ein US-Diplomat die Islamisten unmittelbar für die Tat verantwortlich gemacht. "Die Taliban sollten verstehen, dass solche Taten, für die sie Verantwortung tragen, die Welt wütend machen und dass sie aufhören müssen, wenn Frieden nach Afghanistan kommen soll", teilte ein Diplomat mit.

Die afghanische Regierung, schwer in Bedrängnis durch das von Trump entwickelte Abzugsszenario, reagierte nun erleichtert auf die Ankündigung der Biden-Administration. "Die Taliban haben sich nicht an die Vereinbarungen gehalten", sagte der Sprecher von Präsident Ghani am Samstag unter Verweis darauf, dass die Gewalt anders als von den Islamisten versprochen keineswegs weniger geworden sei. Die afghanische Verhandlungsdelegation bemüht sich unterdessen, ihrerseits Friedensgespräche mit den Taliban in Doha in Gang zu bringen - bislang haben sich beide Seiten aber kaum annähern können.

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