Afghanistan:Internationaler Strafgerichtshof geht gegen Taliban-Führer vor

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Taliban-Oberhaupt Hibatullah Achundsada zeigt sich selten in der Öffentlichkeit, hier ist er auf einem Poster in Kabul zu sehen. (Foto: WAKIL KOHSAR/AFP)

Der Chefankläger in Den Haag wertet die systematische Unterdrückung von Frauen in Afghanistan als Verbrechen gegen die Menschlichkeit – und beantragt Haftbefehl.

Von Tobias Matern und Ronen Steinke

Die Entrechtung von Frauen und Mädchen durch das Taliban-Regime in Afghanistan wird zu einem Fall für die internationale Justiz. Der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), der Brite Karim Khan, hat jetzt Haftbefehle gegen zwei Führungsfiguren der Taliban beantragt, wie er am Donnerstag bekanntgab. „Frauen und Mädchen sowie die LGBTQI+ Community“ sähen sich in dem Land einer beispiellosen Unterdrückung ausgesetzt.

Der juristische Vorwurf in Den Haag lautet, die Taliban begingen damit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, speziell in der Form einer systematischen Verfolgung von Menschen aus Gründen des Geschlechts. Dies ist strafbar nach dem Statut des IStGH. Der Staat Afghanistan war im Februar 2003 dem Gerichtshof beigetreten. Damals waren die Taliban nicht an der Macht.

Weitere Haftbefehle gegen führende Taliban-Vertreter könnten folgen

Die beiden Haftbefehlsanträge richten sich nun gegen das Oberhaupt der Taliban, Hibatullah Achundsada, sowie gegen dessen Justizminister, Abdul Hakim Hakkani. Beide Männer seien dafür verantwortlich, dass die Taliban seit dem 15. August 2021 im ganzen Land auf Morde, Folter, Vergewaltigung und andere Formen der Gewalt setzten. Damit würden sie ihre Agenda durchsetzen, Frauen und Mädchen von Bildung und einer Teilnahme am öffentlichen Leben auszuschließen.

Dabei stellt der Haager Chefankläger klar: Die Art und Weise, wie die Taliban das islamische Religionsgesetz, die Scharia, für sich interpretiere, „sollte nicht und darf auch nicht“ als Rechtfertigung für Menschenrechtsverbrechen akzeptiert werden. Und er kündigt an: Weitere Haftbefehle gegen weitere Taliban-Figuren würden schon „bald“ folgen.

Hibatullah Achundsada wurde 2016 Taliban-Oberhaupt, er gilt als religiöser Hardliner, weniger als militärischer Stratege. Als die Taliban im Sommer 2021 die Macht in Kabul übernahmen, gelangte er in die Rolle des Staatsoberhaupts. In der Öffentlichkeit tritt er trotzdem fast nie auf. Er verkündet Dekrete von Kandahar aus, die Stadt im Süden Afghanistans galt schon immer als Festung der Taliban.

Vertretern der Vereinten Nationen, die sich um Gespräche mit ihm in Kandahar bemüht haben, zeigte er die kalte Schulter. Die Taliban sehen sich als Sieger im Kampf mit den Ungläubigen aus dem Westen, die das Land nach dem Zusammenbruch der Regierung von Aschraf Ghani nach einem 20-jährigen Einsatz gedemütigt verließen. Auch wenn das Land wirtschaftlich darbt, die Taliban unter Achundsada suchen keine Annäherung an den Westen.

Frauen dürfen sich in der Öffentlichkeit nicht ohne männlichen Begleiter bewegen

Justizminister Hakkani gehörte schon in der ersten Phase der Taliban-Macht, von 1996 bis 2001, zum engeren Zirkel, damals als Richter. Er gehört zum Hakkani-Netzwerk, das während der westlichen Besatzung für zahlreiche blutige Anschläge verantwortlich gemacht worden ist. Heute ist er zuständig für die Verfolgung und Bestrafung von Verstößen gegen die Taliban-Regeln.

Der Taliban-Auslegung des Islams zufolge soll es Frauen nicht gestattet sein, in der Öffentlichkeit ohne männlichen Begleiter aufzutauchen. Auch das Schulverbot für Mädchen von der 7. Klasse an ist Teil dieser drakonischen Auslegung des Islam. Appelle der internationalen Gemeinschaft, das Menschenrecht auf Bildung allen Afghaninnen zu gewähren und dafür im Gegenzug mehr Hilfe für das Land zu erhalten, verhallen ohne Resonanz.

Der strikte Kurs Achundsadas und seiner Gefolgsleute wird allerdings in manchen Teilen des Landes unterlaufen, zum Teil auch unter Duldung örtlicher Taliban-Vertreter. So gibt es „Untergrund-Schulen“, in denen Mädchen in privaten Räumen unterrichtet werden. Häufig geschieht dies mit Wissen der örtlichen Taliban-Vertreter, die „über diese Praxis hinwegsehen“, wie ein afghanischer Beobachter es ausdrückt.

Sollte der IStGH nun entscheiden, dass gegen Achundsada und seinen Justizminister Hakkani tatsächlich Haftbefehle erlassen werden – diese Entscheidung obliegt einer Richterkammer, die sich mit der Prüfung der Beweismittel einige Wochen oder Monate Zeit lassen dürfte -, dann würde sich womöglich erst einmal gar nicht so viel ändern. Die beiden Afghanen wären dann in derselben Situation, in der heute schon der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der russische Präsident Wladimir Putin stecken: aktive Politiker, aber zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Allzu weit reisen könnten sie dann nicht mehr. Das taten die beiden Taliban-Männer aber ohnehin nicht.

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