Süddeutsche Zeitung

Migration:Wo die Fluchtrouten von Afghanistan nach Europa verlaufen

Lesezeit: 3 Min.

Schon jetzt sind mehr als zwei Millionen Menschen aus Afghanistan geflohen, Hunderttausende könnten folgen. Trotz strenger Überwachung überwinden viele auch die türkische Grenze.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Nach der Machtübernahme der Taliban erwarten europäische Regierungen und Flüchtlingsorganisationen einen möglichen Ansturm von Afghanen, die das Land verlassen wollen. Die Taliban sind für ihre Brutalität und ihr drakonisches Scharia-Regime berüchtigt. Afghanen, die für die bisherige Regierung oder für die ausländischen Streitkräfte gearbeitet haben, wurden von den radikalen Islamisten oft als todeswürdige "Verräter" bezeichnet. Dasselbe galt für Polizisten und Soldaten.

Die Taliban geben sich derzeit allerdings ungewohnt moderat. Sie haben eine Generalamnestie für alle diese Gruppen angekündigt. Doch die meisten Afghanen, die in Opposition zu den Islamisten stehen, werden daran kaum glauben. Das gilt auch für die Frauen, denen ihre neuen Freiheiten wegen der "islamischen Werte der Scharia" bald wieder weitgehend genommen werden könnten.

Die Flucht dürfte Hunderttausenden Afghanen in den kommenden Monaten und Jahren als einzige Alternative erscheinen. Auch wenn der zentralasiatische Bürgerkriegsstaat weit von Europa entfernt ist, sind die Flucht-Routen bekannt. Sie sind wegen des hohen Organisationsgrades afghanischer, iranischer und türkischer Schlepper auch zu bewältigen.

Allerdings kündigte die iranische Regierung am Mittwoch an, die Ostgrenze für Afghanen zu sperren, da sich "die Lage in Afghanistan stabilisiert". Teheran müsse auch wegen Covid-19 solche Schutzmaßnahmen treffen. Falls die Grenze aber doch wieder geöffnet würde, wäre die eine Route die über die afghanische Westgrenze nahe Herat. Von dort aus geht es quer durch die Islamische Republik in die Osttürkei. In Iran leben bereits etwa 800 000 afghanische Flüchtlinge. Die Neuankömmlinge hätten auf der Reise also Anlaufstellen im Land.

Teheran hat kein Interesse daran, dass die Menschen bleiben

Eine Alternative sind die Routen durch Pakistan. Dei Grenzen sind relativ durchlässig Im Nachbarland leben bereits mehr als 1,4 Millionen afghanische Flüchtlinge und das oft seit Jahren. Diese könnten den Migranten helfen oder sich ihnen anschließen auf dem Weg Richtung Grenze zum Südosten Irans. Auch wenn die Grenze zwischen Iran und Pakistan auf der iranischen Seite wegen des Kampfes gegen Drogenschmuggler streng bewacht wird, können Schlepper die Menschen mit Bestechung in Richtung Türkei bringen.

Da die iranischen Behörden kein Interesse daran haben können, dass weitere afghanische Flüchtlinge im Land bleiben, werden sie die Menschen zügig in die Türkei weiterreisen lassen. Die gebirgige iranisch-türkische Grenzregion ist das eigentliche Schleusentor für die Migrationsbewegung aus Afghanistan in Richtung Europa. Obwohl diese Grenze auf der türkischen Seite ebenfalls streng überwacht wird - mit einem System aus Mauern, Wachtürmen und Gräben sowie mit Drohnen und Thermokameras -, kommen die Migranten auch hier meist weiter. Professionelle Schlepper schleusen sie in die Türkei ein.

Warum der türkische Grenzschutz so mangelhaft funktioniert, ist unklar. Zeitweise sollen türkischen Medienberichten zufolge zwischen 500 und 2000 Menschen pro Tag in die Ost-Türkei gekommen sein. Regierungskritiker vermuten Korruption bei Grenzern und Polizei als Ursache. Wie ernst das Problem in der Türkei und auch in der EU gesehen wird, zeigt sich daran, dass im jüngsten EU-Flüchtlingsabkommen offenbar Mittel für die Grenzsicherung in der Türkei vorgesehen sind.

Laut UNHCR waren 2020 in der Türkei mehr als 129 000 Afghanen mit internationalem Schutzstatus registriert. Die Zahl der illegal im Land festhängenden Afghanen dürfte sehr hoch sein, es gibt aber kaum verlässliche Daten. Der bekannte türkische Migrationsforscher Murat Erdoğan schätzte die Zahl im Mai 2021 auf 500 000.

Einmal in der Türkei angekommen, müssen sich die Flüchtlinge in die Westtürkei durchschlagen. An die türkische Ägäis-Küste oder an die türkisch-griechische Landgrenze. Dieser letzte Teil der Reise, der hinüber nach Griechenland und damit in die EU führten soll, dürfte - auch wegen der innertürkischen Straßenkontrollen - der schwierigste sein. In der Ägäis patrouilliert dann die griechische Küstenwache, die Medienberichten zufolge vor Push-Backs nicht zurückscheut. Die Zahl der Ankömmlinge auf den griechischen Inseln wie Lesbos oder Samos ist in letzter Zeit stark gesunken. Auch die inzwischen mit Zäunen abgesperrte Landgrenze wird immer schärfer besser bewacht von den griechischen Grenzern, unterstützt von der EU-Agentur Frontex.

In der Türkei selbst verschärft sich die Debatte um die Flüchtlinge gerade. Das Land beherbergt mit 3,6 Millionen Syrern und Hunderttausenden weiteren illegal Eingereisten die meisten Flüchtlinge weltweit. Im Zentrum der Debatte stehen dabei die von der Bevölkerung wenig geschätzten Afghanen. Aber auch die Ablehnung gegenüber den seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 aufgenommen Syrern steigt. Zudem ist die Opposition auf das Thema aufgesprungen und geht die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan wegen seiner früheren Politik offener Grenzen nun hart an.

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