Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:Wo Sicherheit eine Frage der Perspektive ist

Die afghanische und die deutsche Regierung sehen die Sicherheitslage deutlich positiver als die Bevölkerung. Die Ortskräfte, die für die Bundeswehr gearbeitet haben, haben nach dem Abzug der deutschen Truppen vor allem eins: Todesangst.

Von Constanze von Bullion und Tobias Matern

Es klingt, als würden sie unterschiedliche Realitäten beschreiben. Zunächst Saifora Niazi, Parlamentsabgeordnete für die nördliche Balch-Provinz im nationalen Parlament in Kabul: Sie findet, die aktuelle Lage sei mit nichts aus den vergangenen Jahren zu vergleichen. Sie zählt in einem Telefongespräch zahlreiche Distrikte auf, die in dem ehemaligen Bundeswehr-Einsatzgebiet Balch in die Hände der Taliban gefallen seien. Die afghanische Parlamentsabgeordnete spricht auch über Gebiete, die von den Regierungstruppen zurückerobert worden seien, und sie berichtet von "schweren Bombardements, die auch zivile Opfer verursacht haben". Und Niazi sagt über ihre Heimatstadt Masar-i-Scharif: "Die Sicherheitslage in der Stadt ist alarmierend. Die Taliban haben die Tore der Stadt erreicht, die Menschen haben Mut bewiesen, haben den Sicherheitskräften beigestanden und sie zurückgetrieben".

Ein Vertreter des Auswärtigen Amtes sprach Anfang der Woche in Berlin auch über "die schwierige Lage" in Afghanistan. Die Sicherheitslage dort sei aus Sicht der Bundesregierung jedoch "volatil": Es sei nicht so, dass es sich "bei Masar-e-Scharif um eine eingeschlossene Stadt handeln würde, in die niemand hinein- oder aus der niemand herauskäme. Die afghanische Armee befindet sich in Kämpfen mit den Taliban. Es ist schwierig. Dessen sind wir uns bewusst."

Am Mittwochabend hat die SZ dem Auswärtigen Amt dazu Nachfragen per E-Mail gestellt. Etwa, was genau mit dem Begriff "volatil" gemeint sei, warum das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Scharif nicht mehr geöffnet habe, ob die Situation in der Stadt aus Sicht der Bundesregierung lebensbedrohlich sei. Bis Freitagabend gab es darauf keine Reaktion.

In der vergangenen Woche sind die letzten Bundeswehrsoldaten aus Masar-i-Scharif abgezogen, nach 20 Jahren beendet der Westen den militärischen Einsatz in Afghanistan. Die Taliban sind auf dem Vormarsch, eine Friedensvereinbarung mit der Regierung in Kabul haben sie bislang ausgeschlagen. Todesangst haben nun auch zahlreiche sogenannte Ortskräfte, die für die Bundeswehr, die Polizeiausbilder und die Entwicklungshelfer gearbeitet haben. Für sie wirkt es besonders bedrohlich, dass die Taliban im Norden des Landes, dem ehemaligen deutschen Einsatzgebiet, ihre Macht ausweiten konnten.

Dass die Taliban sich nun stark auf diese Region fokussierten, habe damit zu tun, dass sie "die Bildung einer zweiten Nordallianz verhindern wollen", sagt Obaid Ali, Forscher beim unabhängigen Kabuler "Afghanistan Analysts Network". Die Taliban wollten einem möglichen Zusammenschluss mächtiger Regionalfürsten entgegenwirken, die ihnen während ihres Regimes zwischen 1996 und 2001 die Stirn geboten haben.

"Die Bedrohungen sind groß"

Auf Anfrage beim afghanischen Verteidigungsministerium in Kabul betont ein Sprecher, in der Balch-Provinz, deren Hauptstadt Masar-i-Scharif ist, hätten Regierungstruppen massive Operationen gegen die Taliban ausgeführt und den Islamisten schwere Verluste zugefügt. Auch seien "sämtliche Bedrohungen für Masar-i-Scharif zurückgeschlagen worden". Ein Einwohner der Stadt sagte hingegen telefonisch: "Die Sicherheitslage ist sehr kritisch, die Bedrohungen sind groß, es gibt viele Taliban-Aktivitäten in den Außenbezirken der Stadt." Jeden Moment bestehe die Gefahr, dass Masar-i-Scharif "attackiert wird", sagte der Mann, der auf Anonymität bestand.

Am Donnerstagabend traf sich eine Gruppe von 40 Ortskräften in Masar-i-Scharif, "um im Verborgenen zu beraten. Uns ist klar: wir müssen so schnell wie möglich nach Kabul", sagte einer der Männer, der namentlich nicht genannt werden wollte. Die Ortskraft, die noch kein deutsches Visum für die Ausreise erhalten hat, berichtete davon, dass weder die Internationale Organisation für Migration (IOM) der Vereinten Nationen, an die die Bundesregierung nach dem Abzug der Bundeswehr einen Teil des Antragsprozesses für die Ausreise ausgelagert hat, noch "jemand anders von den deutschen Behörden" ihnen bisher zur Seite stehe.

Die Bundesregierung betont, für die Ortskräfte bereits viel getan zu haben, etwa das bürokratische Verfahren für die Ausreise zu beschleunigen. Doch Kritiker bemängeln, dass Auswärtiges Amt, Innen-, Entwicklungs- und Verteidigungsministerium, die allesamt Ortskräfte in Afghanistan beschäftigt haben, untereinander die Verantwortung hin- und herschieben. Bemängelt wird unter anderem, dass sie eine "Gefährdungsanzeige" stellen müssten, um für ein Visum infrage zu kommen.

Bundesinnenminister Horst Seehofer sagte der SZ hingegen, es sei jedem Ministerium selbst überlassen, ob Ortskräfte eine plausibel begründete Gefährdungsanzeige stellen müssen oder ob, wie vom Bundesverteidigungsministerium gefordert, eine Gefährdung automatisch angenommen wird, wenn jemand nachweislich Ortskraft war. "Wir grätschen da als Bundesinnenministerium nicht rein", sagte Seehofer. Er sei also nicht verantwortlich dafür, wenn Ortskräfte länger auf eine Ausreise warten müssten, als ihnen lieb ist.

Ein Flug kostet zwei bis fünf Monatsgehälter

Die Bundesregierung verweist auch auf bereits erteilte 2400 Visa für ehemalige afghanische Mitarbeiter und ihre Familien. Marcus Grotian, der in seiner Freizeit das "Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte" leitet, geht aber davon aus, dass von diesen 2400 Menschen bislang erst etwa 100 Deutschland erreicht hätten. Grotian, der 2011 selbst als Soldat der Bundeswehr im Afghanistan-Einsatz war, rechnet vor, dass neben den bereits bewilligten Visa noch etwa 2000 weitere Menschen als Ortskräfte und Familienmitglieder ein Visum bekommen müssten. Die Haltung der Bundesregierung: Jede Ortskraft muss für sich und die Familienmitglieder die Kosten der Ausreise selbst tragen.

Nach Auskunft eines Kabuler Reisebüros kostet für eine vierköpfige Familie ein einfacher Linienflug mit Turkish Airlines aus der afghanischen Hauptstadt über Istanbul nach Frankfurt 1850 Dollar. Das entspricht, je nach Tätigkeit, etwa zwei bis fünf Monatsgehältern einer ehemaligen Ortskraft.

Grotians Verein sammelt nun Spenden, zunächst einmal um die verbliebenen Ortskräfte aus Masar-i-Scharif und anderen Landesteilen nach Kabul in sichere Unterkünfte bringen zu können. Dann wolle der Verein den Antragsprozess für das Visum unterstützen. "In 14 Tagen wollen wir alle Ortskräfte, die das Land verlassen wollen, ausgeflogen haben", sagt Grotian. Falls sie sich nicht auf die Linienmaschinen verteilen ließen, müsse auch darüber nachgedacht werden, privat eine Maschine zu chartern: "Die Zeit ist knapp, die Menschen, die für uns gearbeitet haben, sind in Lebensgefahr", sagt Grotian.

Ein afghanischer Journalist hat an dieser Geschichte mitgearbeitet. Aus Sicherheitsgründen wird sein Name nicht genannt.

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