Afghanistan:Lernen im Untergrund

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In Afghanistan hat vergangene Woche das neue Schuljahr begonnen. Uneingeschränkt am Unterricht teilnehmen dürfen aber nur Jungs. (Foto: AHMAD SAHEL ARMAN/AFP)

2,2 Millionen Mädchen dürfen in Afghanistan nicht mehr den Unterricht besuchen. Doch gegen das Dekret der Taliban gibt es Widerstand: Heimlich betreiben Aktivisten private Schulen.

Von Tobias Matern, München

Sie haben ihr eine Pistole an die Schläfe gehalten, wollten sie zwingen, sich an ihre Regeln zu halten. Sie habe gegen die Kleiderordnung verstoßen, sagten sie ihr, weil sie Jeans trage. Nach dem Besuch der Taliban fragte sich Parasto Hakim: „Was passiert, wenn sie herausfinden, was ich beruflich mache? Ich muss meine Heimat verlassen.“ Kurz danach erhielt die Bildungsaktivistin weitere Drohungen. Sie packte eine Tasche, nur das Nötigste. Ein paar Kleider, Fotos von ihrer Familie und Bücher. „Denn ich hatte das Gefühl: Dort, wohin ich gehe, werde ich keine Bücher in meiner Sprache haben.“ Im Februar 2023 verließ die junge Frau Afghanistan. „Es ist jenseits aller Worte, sein Land verlassen zu müssen“, sagt sie.

Parasto Hakim bittet darum, dass ihr genauer Aufenthaltsort nicht genannt wird. Sie geht nach wie vor ein Risiko ein. Sie kämpft aus dem Exil gegen die Taliban. Und für die Zukunft afghanischer Mädchen. Es geht ihr vor allem um eine Zahl, die das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen gerade veröffentlicht hat: 2,2 Millionen. So viele Mädchen dürfen in Afghanistan offiziell nicht mehr in die Schule. Nach dem Ende der sechsten Klasse müssen sie zu Hause bleiben. So wollen es die Machthaber.

Hakim ist 27 Jahre alt. Sie war noch ein Kleinkind, als die USA mit einer großen Koalition nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nach Afghanistan kamen, die Taliban stürzten. Zwanzig Jahre dauerte dieser Einsatz, er endete in der Katastrophe: Die Regierung kollabierte, die Taliban stürmten den Präsidentenpalast, die letzten westlichen Soldaten zogen gedemütigt ab.

Für Hakims Generation brach eine Welt zusammen. Mädchen und Frauen hatten im männerdominierten Afghanistan teilhaben dürfen, wenn auch nur in Maßen und vor allem in den Großstädten. Aber die Gesellschaft bewegte sich in kleinen Schritten hin zu mehr Gleichberechtigung. Und Bildung für Mädchen war dafür der wichtigste Baustein. Aber die Taliban drehen die Uhren wieder zurück, so wie während ihres ersten Regimes (1996–2001). Frauen und Mädchen werden wieder an den Rand der Gesellschaft gedrängt.

Mädchen dürfen, wie hier an einer Schule in Kabul, nur noch bis zum Ende des sechsten Schuljahres den Unterricht besuchen. (Foto: AHMAD SAHEL ARMAN/AFP)

Nicht alle beugen sich dem Dekret der Extremisten. Parasto Hakim leitet die Organisation „Srak“, der Begriff bedeutet auf Paschtu „das erste Licht des Tages“. Sie betreibt mit einem Team von acht Mitstreitern in Afghanistan 15 Untergrundschulen in verschiedenen Provinzen des Landes. Nach ihren Angaben sogar in Kandahar, wo der Oberste Führer der Taliban sich von der Öffentlichkeit abschottet. Es gebe zahlreiche andere Organisationen wie ihre, die ebenfalls solche geheimen Schulen eröffnet haben. „Ich möchte, dass die Mädchen in Afghanistan eine Zukunft haben, und ich möchte das Narrativ ändern, dass afghanische Mädchen nur Opfer sind und keine Stimme haben. Ihr Eifer beim Thema Bildung hat sie resilient gemacht: Sie sind keine Opfer, sondern Kämpferinnen.“

Parasto Hakims Schulen werden in privaten Räumen betrieben. Sie und ihr Team beschäftigen 31 Lehrerinnen. Manche arbeiten ehrenamtlich, manche bekommen ein kleines Gehalt. Hakim sucht nach Möglichkeiten, um Geld einzusammeln, damit sie weitere Schulen auf den Weg bringen kann. Ihr Ziel ist es, nach und nach auf 2000 Schulen zu kommen. Dafür will sie, dass die Schülerinnen nach ihrem erfolgreichen Abschluss selbst als Lehrerinnen arbeiten.

„Meine Liebe fürs Unterrichten ist größer als meine Sorge“, sagt eine Lehrerin

Bis zu zehn Fächer werden in ihren Untergrundschulen unterrichtet, darunter Englisch, Mathematik, Dari. Auch Psychologie, denn viele der Mädchen „leiden unter der Situation“, wie Hakim sagt. Immer wieder mal haben die Schulen Besuche von örtlichen Taliban bekommen. Hakim sagt, dass sich dann Dorfälteste und Väter der Mädchen den Taliban entgegenstellen und deutlich machten, dass hier nicht gegen Regeln verstoßen werde. Die Mädchen werden nur von Lehrerinnen unterrichtet, am Unterricht nehmen keine Jungs teil.

Ein Videoanruf im ländlichen Afghanistan: Die Lehrerin einer Untergrundschule tritt verschleiert vor die Kamera. Um die Sicherheit der Lehrerin und ihrer Schülerinnen nicht zu gefährden, soll in diesem Text nicht ihr Name verwendet werden, auch nicht der genaue Ort. Die Verbindung bricht immer wieder ab. Die Lehrerin beantwortet dann alle schriftlichen Fragen per Sprachnachricht. „Meine Arbeit als Lehrerin einer Untergrundschule macht mir Angst, aber meine Liebe fürs Unterrichten ist größer als meine Sorge. Ich will die Zukunft der Mädchen positiv beeinflussen“, sagt sie. Ihre männlichen Verwandten waren erst gegen die Arbeit. Aber sie habe sich gegen die Widerstände durchgesetzt, inzwischen unterstütze sie auch ihr Mann.

Die Bildungsaktivistin Parasto Hakim. (Foto: Privat)

Aus Sicht der Lehrerin geht es beim Thema Bildung um Macht: „Die Taliban wollen nicht, dass die Mädchen und Frauen in diesem Land gebildet sind, weil sie Angst vor ihnen haben. Wenn die Afghaninnen lernen, was es bedeutet, Rechte zu haben, würden sie diese auch einfordern.“ Die Taliban hätten sich also vorgenommen, Frauen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, sie zu „Nicht-Personen“ zu machen: „Sie wollen sie kontrollieren“, sagt die Lehrerin.

Kurz danach schickt auch eine 18-jährige Schülerin eine Sprachnachricht mit Antworten auf die ebenfalls schriftlich geschickten Fragen. Auch sie soll anonym bleiben, um sie nicht zu gefährden. Als die Taliban im Sommer 2021 an die Macht kamen und bald danach den Schulbesuch untersagten, sei eine Welt für sie zusammengebrochen: „In die Schule zu gehen, war für uns Mädchen wie für Vögel, die lernen, bis auf den Gipfel eines Bergs fliegen zu können“, sagt sie. Sie sei in ein tiefes Loch gefallen, als die Schultüren für sie verschlossen blieben. Denn es gehe ihr nicht nur darum, ob sie nach der Schule Ärztin oder Ingenieurin werden könne. „Ich will ein selbständiges Wesen sein und meine Familie unterstützen.“

Taliban „sind furchtbare Wesen mit eingeschränktem Verstand“, sagt eine Schülerin

Jedes Mädchen in Afghanistan habe die Hoffnung, dass die staatlichen Schulen auch für sie wieder öffnen. „Wir möchten wieder wie Menschen leben dürfen. Das Leben afghanischer Mädchen ist nicht einfach nur schwer, es ist ein Desaster“, sagt die Schülerin. Die Taliban versuchten, ihnen ihre Würde zu nehmen. „Sie sind furchtbare Wesen mit eingeschränktem Verstand, Grundsätzen und Wissen.“ Die Untergrundschule habe ihr und den anderen Mädchen neue Hoffnung gegeben.

Es sind Stimmen wie diese, die Parasto Hakim antreiben. Nach ihrer Flucht aus Afghanistan habe sie zunächst ein schlechtes Gewissen geplagt, sagt die Aktivistin. „Ich war beschämt, weil ich am sichersten Ort der Welt war und das Gefühl hatte, nichts mehr für die Mädchen tun zu können.“ Dann hat sie sich schnell entschieden, ihre Arbeit fortzusetzen.

Sie behält aus dem Exil den Überblick über die Organisation, koordiniert, welche Schule Bücher braucht, ob neue Lehrerinnen eingestellt werden müssen. Sie setzt durch, dass nach Besuchen der Taliban die Schulen erst einmal schließen, bis sich die Aufregung gelegt hat. Die Arbeit sei immer in ihren Gedanken, sagt sie. Auch weil Parasto Hakim weiß, dass ihr Team nie wirklich sicher vor den Taliban ist.

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