Süddeutsche Zeitung

Afghanistan-Einsatz:Geordneter Abzug

Die Entscheidung von Joe Biden, die in Afghanistan stationierten US-Soldaten bis Mitte September nach Hause zu holen, hat Folgen für Nato und Bundeswehr: Der gemeinsame Einsatz steht vor dem Ende.

Von Daniel Brössler, Berlin, und Matthias Kolb, Brüssel

Es ist erst drei Wochen her, dass Antony Blinken als neuer US-Außenminister die Nato in Brüssel besucht hat. Damals war die Freude im Verteidigungsbündnis so groß, das Ende der vier schwierigen Jahre mit Donald Trump einleiten zu können, dass fast unterging, dass Blinken eine wichtige Frage nicht beantworten konnte: Wann wird US-Präsident Joe Biden seine Soldaten aus Afghanistan zurückholen?

Seine Entscheidung hat Biden am Mittwochabend im Weißen Haus endgültig bekannt gegeben: Bis zum 11. September soll der Abzug der US-Truppen aus Afghanistan abgeschlossen sein. Am 1. Mai sollen die ersten Soldaten das Land verlassen. Auch die Nato leitet nun das Ende ihres Einsatzes in Afghanistan ein, wie am Mittwochabend nach einem virtuellen Treffen der Bündnispartner bekannt wurde. Die Bundeswehr soll das Land bereits bis Mitte August verlassen, wie die Deutsche Presse-Agentur erfuhr.

Biden hatte seine Entscheidung bereits am Dienstagabend über die Washington Post mitgeteilt. Daraufhin trafen sich die Nato-Bündnispartner zu einer Videokonferenz.

Genau zwanzig Jahre nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon sollen die letzten US-Soldaten Afghanistan verlassen haben - und zwar unabhängig von Bedingungen. Eine solche Verknüpfung hält Biden Beratern zufolge "für ein Rezept, um für immer in Afghanistan zu bleiben", und dazu ist er nicht bereit. "Es ist Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden. Es ist Zeit für die amerikanischen Truppen, nach Hause zu kommen", sagte Joe Biden am Mittwochabend in seiner Rede im Weißen Haus. Zugleich sicherte er der afghanischen Regierung weitere Unterstützung zu: "Obwohl wir in Afghanistan nicht weiter militärisch involviert sein werden, wird unsere diplomatische und humanitäre Arbeit weitergehen".

US-Außenminister Blinken hatte am Mittwoch die Aufgabe, den Verbündeten die Folgen von Bidens Entschluss in einer Videokonferenz der Außen- und Verteidigungsminister zu erklären. An der Seite von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach er "von einem wichtigen Moment für unsere Allianz" und erinnerte daran, warum 2001 dieser Krieg begonnen wurde: "Wir wollten sicherstellen, dass Afghanistan nicht zu einem Rückzugsort für jene werden kann, die einen von uns angreifen könnten." Dieses Ziel sei erreicht.

Warnungen vor unvorhersehbaren Folgen

Auch für die Bundesregierung kam die Entscheidung wenig überraschend, auch wenn Außenminister Heiko Maas (SPD) dafür plädiert hatte, das Ende des Nato-Einsatzes vom Erfolg der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und Regierung in Kabul abhängig zu machen. Im März hatte der Bundestag beschlossen, das Mandat für bis zu 1300 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bis Ende Januar 2022 zu verlängern. Da war allerdings schon klar gewesen, dass die Frist vermutlich nicht ausgeschöpft werden würde.

"Wir haben immer gesagt: Wir gehen gemeinsam rein, wir gehen gemeinsam raus", sagt Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) am Mittwochmorgen in der ARD. "Ich stehe für einen geordneten Abzug." Logistisch werden für den Abzug der Bundeswehr, dem zweitgrößten Truppensteller der Nato-Mission Resolute Support, etwa zehn Wochen veranschlagt.

Maas nahm in Brüssel an einem Treffen der Rahmennationen von Resolute Support teil: Neben Deutschland und den USA sind dies Italien und die Türkei. Die Nato-Experten werden nun alles vorbereiten, damit der Abzug von Soldaten und Material möglichst abgestimmt erfolgt. Biden hatte nach seinem Wahlsieg die Pläne seines Vorgängers Trump prüfen lassen, der ohne hinreichende Konsultationen der Nato-Partner mit den radikalislamistischen Taliban einen Abzug bis zum 1. Mai vereinbart hatte.

Dabei waren zuletzt die Amerikaner bei der Nato-Mission bereits in der Minderheit. Seit Monaten hatte Stoltenberg von einer "harten und schwierigen Entscheidung" gesprochen und damit die Sorge zum Ausdruck gebracht, dass ein übereiltes Ende des Einsatzes unvorhersehbare Folgen haben könnte. Zu Jahresbeginn warnten die Fachleute der vom US-Kongress eingesetzten "Afghanistan Study Group", dass ein unüberlegter Abzug zum "Kollaps" in Afghanistan führen und auch die Sicherheit der USA gefährden könnte. Dieses Risiko hält die Biden-Regierung offenbar für beherrschbar.

"Abzug heißt nicht abwenden"

Gleichzeitig war Diplomaten und Militärplanern klar, dass die Gefahr von Anschlägen auf Ausländer durch die Taliban steigen dürfte, wenn der Trump-Termin 1. Mai nicht eingehalten wird. Die Warnung aus Kabul kam noch vor Bidens Rede: Man strebe den Abzug aller ausländischen Streitkräfte zum per "USA-Taliban-Abkommen" festgelegten Datum an, schrieb ein Taliban-Sprecher auf Twitter. Die Probleme würden sich "verschärfen", falls die Vereinbarung gebrochen werde, drohte er.

Trotz allem glaubt der außenpolitische Sprecher der SPD im Bundestag, Nils Schmid, dass der Einsatz in geordneten Bahnen beendet werden kann. "Das ist alles für uns handhabbar", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Zugleich betonte Schmid: "Abzug heißt nicht abwenden." Zwar gehe von Afghanistan für Europa keine Terrorgefahr mehr aus, dennoch gebe es viel zu verlieren.

Das Erreichte, etwa Frauenrechte und der Schulbesuch von Mädchen, müsse bewahrt werden. "Hebel" gebe es dafür: Zum einen seien die Taliban an der Aufhebung von Sanktionen interessiert, zum anderen insbesondere die Europäer als Geber unentbehrlich. "Das muss man klug einsetzen", forderte Schmid.

Der Truppenabzug dürfe nicht bedeuten, "dass das Land gänzlich seinem Schicksal überlassen wird", sagt der FDP-Außenpolitiker Bijan Djir-Sarai. Vielmehr müsse die Bundesregierung mit den internationalen Partnern ein Konzept für eine politische Perspektive nach dem Abzug erarbeiten und Afghanistan in seinem Friedensprozess weiter unterstützen. Bidens Entscheidung sei der "Müdigkeit der US-Öffentlichkeit" geschuldet und habe wenig mit der Lage in Afghanistan zu tun, urteilt Omid Nouripour von den Grünen.

Die Zahl der getöteten Zivilisten steigt

Mit Katar ist Deutschland Moderator einer innerafghanischen Dialogkonferenz, die die Voraussetzung für einen Friedensprozess schaffen soll. Dieses Engagement könne nicht ersetzt werden durch die von der Türkei angekündigten Friedensgespräche für Afghanistan, die vom 24. April bis 4. Mai in Istanbul stattfinden sollen, betonte SPD-Außenpolitiker Schmid.

Dass die Taliban die Istanbuler Konferenz ablehnen, beunruhigt Thomas Ruttig vom Thinktank Afghanistan Analysts Network. Durch ihre Absage gäben die Islamisten zu verstehen, "dass Frieden und eine Teilung der Macht nur zu ihren Bedingungen und nach ihrem Zeitplan kommen werden", sagte er dem Evangelischen Pressedienst.

Laut einem Bericht der in Afghanistan ansässigen UN-Mission (Unama) ist die Zahl von getöteten und verwundeten Zivilisten im ersten Quartal 2021 um fast 30 Prozent gestiegen. Demnach starben von Januar bis März mehr als 570 Zivilisten, mehr als 1210 wurden verwundet. Der Anstieg sei hauptsächlich auf Bodeneinsätze, improvisierte Sprengkörper und gezielte Tötungen zurückzuführen.

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