Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:Aufarbeitung des Desasters, erster Akt

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Wie konnte es dazu kommen, dass Deutschland die Lage komplett falsch eingeschätzt hat, bevor Afghanistan an die Taliban zurückfiel? Im Untersuchungsausschuss zeigt sich: Soldaten warnten früh vor einem "Emirat 2.0".

Von Mike Szymanski, Berlin

Es geht an diesem Donnerstag im kreisrunden Sitzungssaal E400 des Bundestages zurück in die Vergangenheit; in eine ziemlich düstere, das muss man so sagen. Vor den Parlamentariern, die sich in einem Untersuchungsausschuss mit dem am Ende fluchtartigen Abzug aus Afghanistan und den schwerwiegenden Folgen für die Zurückgelassenen beschäftigen, sitzt Rico G. in seiner grauen Uniform. Er ist Stabsoffizier aus dem Verteidigungsministerium, 44 Jahre alt und arbeitet in einer Abteilung, in der Kameraden gerne mal die "Schwarzmaler" vom Dienst vermuten; diejenigen mit den schlechten Nachrichten.

Der Oberstleutnant arbeitet in der Abteilung "Strategie & Einsatz". Er ist Lage-Referent. Der Offizier schreibt Berichte darüber, wie sich die Sicherheitslage im jeweiligen Einsatzgebiet der Bundeswehr aktuell darstellt. G. kümmerte sich seit Sommer 2019 um Afghanistan. Leute wie er sollen auch abschätzen können, wie sich die Lage entwickelt, also ein bisschen in die Zukunft schauen.

Lagebild in "homöopathischen Dosen"

G. war früh klar: Die Taliban wollen das Land wieder unter ihre Kontrolle bringen. "Seit 2015/2016 haben sie auf dieses Ziel hingearbeitet." Man habe sehen können, dass dies ein fortschreitender Prozess gewesen sei, erzählt er den Abgeordneten. Im Februar 2020, als die USA mit den Taliban im Abkommen von Doha den Abzug der internationalen Truppen vereinbart hatten, hätten sie quasi ihre strategischen Ziele umgesetzt.

In den Berichten, an denen er damals mitwirkte, hörte sich das dann so an: Die Errichtung eines islamischen "Emirates 2.0" sei das "wahrscheinlichste" Szenario für die Zukunft des Landes. Und so kam es am Ende auch, nur sogar noch schneller, als wohl die meisten vermuteten, selbst dieser Offizier. Das war die Lage im Frühjahr 2020, anderthalb Jahre bevor das Land komplett in die Hände der Taliban zurückfiel.

Ein Kamerad, der in der gleichen Abteilung arbeitete, merkte laut den Dokumenten, die den Abgeordneten vorliegen, damals an: Es sei an der Zeit, in den Unterrichtungen an das Parlament "in homöopathischen Dosen" darzustellen, was passiert. Klar war damals nämlich auch, dass die afghanischen Sicherheitskräfte abhängig waren von internationaler Unterstützung. Die Abzugsankündigung der Amerikaner, so erzählt es G. im Ausschuss, habe dann zu einem "Motivationsschock" bei den afghanischen Streitkräften geführt. Als die Amerikaner tatsächlich gingen, brachen sie zusammen. In Kabul seien sie plötzlich "spurlos" verschwunden gewesen.

Wichtige Akten sind bisher nicht geliefert worden

Der Untersuchungsausschuss will möglichen Versäumnissen nachgehen, klären, wie es dazu kommen konnte, dass Deutschland die Lage in Afghanistan so komplett falsch eingeschätzt hat. Am Donnerstag ist das Gremium mit der Befragung von G. in die Zeugenvernehmung eingestiegen. Zwei weitere Kameraden sind für diesen Tag geladen, um Einblicke darüber zu geben, ob die Politik nicht doch hätte früher zu der Erkenntnis kommen können, dass sich in Afghanistan eine Katastrophe abzeichnet. G. vermerkte immerhin 2020, dass die Taliban ihren Zielen noch "nie so nahe" gewesen seien.

Für Ausschuss-Chef Ralf Stegner (SPD) stellt sich nun die Frage, inwieweit diese Analysen damals die Politik erreicht haben, denn zumindest im Verteidigungsministerium habe man ja darüber diskutiert, was kommen könnte. "Deshalb kann die Überraschung nicht so groß gewesen sein", sagt er in der Sitzungspause. Thomas Röwekamp, Abgeordneter der CDU, findet auch, die Erkenntnisse im Ministerium seien "solide" gewesen.

G. wird im Ausschuss noch gefragt, ob jemand auf seine Analysen Einfluss genommen habe. "Ein klares: nein", sagt er. Er habe seine Berichte an seinen Abteilungsleiter weitergegeben, was danach damit passiert sei, könne er nicht nachverfolgen. Die Texte seien auch nur Zuarbeiten zur Gesamtlage, mit dieser seien andere befasst gewesen. Und was schließlich bei den Abgeordneten an Analysen angekommen sei, das müssten ihm eigentlich die Parlamentarier im Raum berichten. So sieht er das.

Die Aufarbeitung des Afghanistan-Desasters steht an diesem Donnerstag noch ganz am Anfang. Die ersten Zeugen stehen zwar bereit, aber noch immer sind nicht alle angeforderten Akten an den Ausschuss überstellt worden. Das Verteidigungsministerium habe zwar einen großen Schwung an Dokumenten geliefert, aber einige Akten, die auch mit der Arbeit von G. zu tun hätten, seien erst am Mittwochabend geliefert worden. Zu spät, um noch für die Vernehmung gesichtet zu werden.

"Dies konterkariert die Arbeit des Ausschusses"

Der Abgeordnete Röwekamp von der CDU führt das auf Anlaufschwierigkeiten zurück, macht aber auch klar: "Wenn die zugehörigen Akten, wie jetzt geschehen, erst am Vorabend vollständig zur Verfügung gestellt werden, ist eine dem Untersuchungsauftrag angemessene Vorbereitung schlichtweg unmöglich. Dies konterkariert die Arbeit des Ausschusses."

Ein anderer Aktenlieferant, der bislang aber kaum Dokumente zur Verfügung gestellt haben soll, war am Mittwoch von den Ausschuss-Obleuten zum Gespräch gebeten worden: Bundesnachrichtendienst-Chef Bruno Kahl. Der BND spielt eine Schlüsselrolle bei der Lageeinschätzung. Bis Mitte Oktober soll der Dienst einen ersten Schwung an Akten übergeben, damit die Arbeit des Ausschusses nicht gleich ins Stocken gerät.

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