Süddeutsche Zeitung

Affäre Wirecard:Wer weiß denn so was?

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Das Kanzleramt legt die Kontakte mit der Skandalfirma offen. Von gravierenden Problemen will man nichts bemerkt haben. Der auch unter Druck stehende Finanzminister erhält nun Rückendeckung.

Von Cerstin Gammelin und Mike Szymanski, Berlin

Die Betrugsaffäre um den mittlerweile insolventen Zahlungsdienstleister Wirecard ist im Kanzleramt angekommen. Das Unternehmen hat mehrfach versucht, über Staatsministerin Dorothee Bär (CSU), den aus Bayern stammenden früheren Geheimdienstkoordinator Klaus-Dieter Fritsche sowie Ex-Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) direkte Kontakte zu Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aufzubauen. Dass die CSU heftig lobbyierte, geht aus einer am Mittwoch vom Kanzleramt veröffentlichten Chronologie der Kontakte hervor. In der Koalition wächst derweil die Sorge, dass die Affäre sich ausweiten und den anstehenden Wahlkampf für die Bundestagswahl 2021 überschatten könnte.

Allen bisher verfügbaren Unterlagen zufolge war das Vorzeigeunternehmen der deutschen FinTech-Branche in der Finanzaufsicht Bafin, dem Finanzministerium und dem Kanzleramt gut bekannt. Es gab regelmäßige Kontakte. Zwar hat Angela Merkel sich offenbar nie direkt mit Markus Braun, dem Vorstandschef von Wirecard, getroffen. Eine über Staatsministerin Bär übermittelte Gesprächsanfrage lehnte Merkel im Januar 2019 ab. Braun nahm lediglich im Juni 2020 an einer Videoschalte der Kanzlerin mit allen Dax-Konzernen teil. Aus der vom Kanzleramt übermittelten Aufstellung aller Kontakte wegen und mit Wirecard geht aber nicht direkt hervor, ob Merkel von den seit Februar 2019 laufenden Ermittlungen gegen Wirecard wegen des Verdachts auf Bilanzfälschung und Geldwäsche informiert worden war. Die meisten Informationen waren auch öffentlich zugänglich. Die Frage danach, was Merkel wusste, ist deshalb wichtig, weil die Kanzlerin sich nach einem Gespräch mit Guttenberg auf ihrer Reise nach China Anfang September 2019 persönlich für Wirecard eingesetzt hat. Die Bundeskanzlerin habe Wirecard und die von dem Zahlungsdienstleister geplante Übernahme eines chinesischen Unternehmens bei den Gesprächen mit der chinesischen Führung "angesprochen". Merkels Wirtschaftsberater Lars-Hendrik Röller habe Guttenberg anschließend eine "weitere Flankierung" zugesagt. Merkel habe zum Zeitpunkt der Reise allerdings "keine Kenntnis von möglichen schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei Wirecard" gehabt, teilte das Kanzleramt mit. Das schließt nicht aus, dass Merkel zwar über die bestehenden Ermittlungen gegen Wirecard informiert war, diese aber auch im Kanzleramt wie zuvor im Finanzministerium als nicht so gravierend eingeschätzt worden waren, dass sich Merkels Fürsprache verboten hätte. Das wirft die Frage auf, warum weder das Kanzleramt noch das Finanzministerium strenger hingeschaut haben.

Der Streit um die Verantwortung für den Betrugsskandal ist besonders heikel für Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD). Die Finanzkontrolle hat offensichtlich versagt, er ist ihr oberster Dienstherr. Das könnte seine Ambitionen durchkreuzen, als Kanzlerkandidat der SPD bei der nächsten Bundestagswahl anzutreten. Ein entscheidender Tag dürfte der kommende Mittwoch werden, wenn der Finanzausschuss des Bundestags wegen Wirecard zu einer Sondersitzung zusammenkommt. Scholz soll befragt werden, ebenso Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und ein Vertreter der Bilanzprüfungsgesellschaft DPR. Sollten sich die Vorwürfe dabei nicht aufklären lassen, haben die Abgeordneten die Möglichkeit, einen Untersuchungsausschuss einzuberufen. Dieser würde im Herbst mit seiner Arbeit beginnen und bis Mai 2021 laufen - und damit im Wahlkampf.

Untersuchungsausschüsse können Karrieren verändern: Als die CDU 2018 eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger für Angela Merkel suchte, gehörte die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nicht zu den Bewerbern. Ein Grund dafür dürfte gewesen sein, dass sie damals ebenfalls einen Untersuchungsausschuss auf sich zukommen sah, es ging um rechtswidrige Beraterverträge in ihrem Haus. Solange der Ausschuss lief, kam sie aus den schlechten Nachrichten kaum heraus.

Die SPD will ihren bislang einzigen vorzeigbaren potenziellen Kanzlerkandidaten jetzt nicht beschädigen lassen. Sie hat damit begonnen, einen schützenden Ring um den Minister zu bauen. Am Mittwoch stellte sich die Parteispitze überraschend klar hinter Scholz. "Aus meiner Sicht reagiert das Ministerium klar und sauber", sagte Co-Parteichef Norbert Walter-Borjans der Süddeutschen Zeitung. Scholz habe den Hergang der Ereignisse akribisch dokumentieren lassen, es werde nicht gemauert. "Er hat außerdem die Initiative für eine auch von mir geforderte Generalreform ergriffen, die die Finanzaufsicht fit macht für die Erkennung immer ausgefeilterer dubioser Praktiken", sagte Walter-Borjans, der früher Finanzminister in Nordrhein-Westfalen war: "Dabei kann er meiner Unterstützung gewiss sein".

Schon vor der Parteispitze hatte sich die SPD-Bundestagsfraktion für Scholz stark gemacht und durchgesetzt, dass auch Wirtschaftsminister Altmaier vor dem Finanzausschuss erscheinen muss. In den Geschäftsbereich von Altmaier fällt die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer, die Wirecard bis 2019 fehlerfreie Bilanzen testiert hatten. Auch das Bundesfinanzministerium ist auffällig aktiv geworden: In Scholz' engstem Umkreis ist man fast rund um die Uhr mit Versuchen beschäftigt, den Minister aus der Bredouille zu bringen, mit Anrufen, Aufklären, Nachforschen und Hinweisen.

Womöglich wird der SPD auch die Linkspartei behilflich sein können. Am Mittwoch forderte Klaus Ernst, Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Bundestag, Altmaier auf, noch vor der Sondersitzung des Finanzausschusses kommende Woche zwölf Fragen zu beantworten, unter anderem zu seinen Kontakten mit Wirecard, dem China-Geschäft Bund der Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer. Damit gerät auch Altmaier unter Druck. Bisher haben das Bundesfinanzministerium und das Kanzleramt Kontakte offengelegt, der Wirtschaftsminister selbst nicht.

So ungelegen ein Untersuchungsausschuss der SPD kommen würde - auch die Union dürfte großes Interesse daran haben, ihn zu verhindern. Einerseits wegen der Spuren, die vom Kanzleramt in die CSU und nach Bayern führen. Aber auch, weil die mutmaßlichen Betrügereien des Dax-Konzerns mindestens bis ins Jahr 2015 zurückreichen - als der Bundesfinanzminister noch Wolfgang Schäuble hieß. Der CDU-Politiker hat sich damals allerdings nicht selbst um die modernen FinTech-Unternehmen gekümmert, wie die Zahlungsdienstleister oft genannt werden. Der FinTech-Beauftragte im Bundesfinanzministerium war Jens Spahn (CDU), den Schäuble als parlamentarischen Staatssekretär ins Ministerium geholt hatte. Spahn hatte sich gute Kontakte in die Szene aufgebaut - ob Wirecard darunter war, ist bislang ungeklärt. Ein Untersuchungsausschuss könnte auch den Hoffnungsträger im Rennen um den CDU-Vorsitz vorladen lassen, und Schäuble selbst. Vermeiden lässt sich das nur, wenn vorher aufgeklärt wird.

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SZ vom 23.07.2020
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