Jagt der Verfassungsschutz ein Phantom? Schon seit Januar 2019 stuft das Bundesamt für Verfassungsschutz den sogenannten Flügel der AfD, ein informelles Netzwerk der Völkischen in der Partei, als Beobachtungsobjekt ein. Das heißt: Der Geheimdienst hat diese Gruppe im Visier. Aber schon im April 2020 hat sich der "Flügel" aufgelöst, zumindest offiziell. Der thüringische Rechtsaußen Björn Höcke persönlich hat das damals mitverkündet.
In Köln legt deshalb am Dienstagmittag ein Richter die Stirn in Falten. Michael Huschens sitzt der 13. Kammer des Verwaltungsgerichts vor. Er blickt in Richtung der Vertreter des Bundesamts für Verfassungsschutz, die ihm Rede und Antwort stehen müssen. Er hat eine Frage. Wie, bitte, kann der Verfassungsschutz eine Gruppe beobachten, die gar nicht mehr existiert?
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Der Verfassungsschutz hat eine Erklärung, er hat sie schon öfter vorgebracht: Der Dienst ist der Meinung, der "Flügel" in der AfD habe sich nur zum Schein aufgelöst. In Wahrheit existiere das Höcke-Netzwerk noch immer. Die Selbstauflösung sei nur Augenwischerei gewesen, um dem heranrückenden Verfassungsschutz zu entkommen, und manche "Flügel"-Leute sprächen zumindest privat und informell auch weiterhin vom "Flügel".
Aber: "Diese Gewissheit haben wir nicht finden können", sagt Richter Huschens. Es ist ein harter, kritischer Satz in Richtung des Verfassungsschutzes. Es wird nicht der einzige bleiben in dieser Gerichtsverhandlung. Der Verfassungsschutz trägt für alle seine Behauptungen die "Beweislast", so hat der Richter deutlich gemacht. Und der Dienst hat bereits mehr als 130 Leitz-Ordner an Aktenmaterial an das Gericht geschickt. Offenbar ohne in allen Punkten zu überzeugen.
Die Richter sind streng mit dem Verfassungsschutz
Es geht um eine der heikelsten Entscheidungen aus der Welt der Nachrichtendienste, um eine Frage, die die Demokratie im Kern betrifft. Darf und soll das Bundesamt für Verfassungsschutz die AfD beobachten? Darf und soll der Inlandsgeheimdienst eine Oppositionspartei mit fünf Millionen Wählern an den Pranger stellen und sie in die Sorge versetzen, dass jetzt Spione ihnen zu Leibe rücken, Telefonate abhören, E-Mails abfangen, V-Leute einsetzen?
Zu entscheiden hat dies keines der obersten Gerichte der Republik. Sondern es ist die 13. Kammer des Verwaltungsgerichts in Köln, weil dort das Bundesamt für Verfassungsschutz zufällig seinen Hauptsitz hat. Es sind vier Richterinnen und Richter nebst vier Laien auf der Richterbank, die am Dienstag in einem angemieteten Saal der Kölner Messe ein ganzes Bündel an AfD-Fällen verhandeln. Und kurz gesagt: Sie sind streng mit dem Verfassungsschutz.
Die AfD hat geklagt. Und sie bekommt in mehreren Punkten recht. Der "Flügel" darf nicht länger als "gesichert rechtsextrem" bezeichnet und beobachtet werden. Der Verfassungsschutz müsse dies unterlassen. Die Belege reichten in diesem Punkt einfach nicht aus, so die Richter. Dies sei für das Gericht sogar der "klarste Fall" unter all den einzelnen Klagen der AfD gewesen. Auch die Behauptung, dass der "Flügel" eine "Mitgliederzahl" von 7000 habe, sei zu unterlassen.
Der Anwalt des Verfassungsschutzes, Wolfgang Roth, hatte dem Gericht als Erklärung angeboten: Es sei schon möglich, dass der "Flügel" in Wahrheit nicht weiter zusammenhalte. Dass er seit 2020 zerfranse und auseinanderstrebe, dass er gewissermaßen in der AfD "diffundiere", anstatt als eigenständige Struktur weiter zu existieren. Solange das "unklar" bleibe, müsse der Verfassungsschutz aber hinsehen, argumentiert er. Auch wenn er den "Flügel", den er beobachten wolle, selbst nicht recht umgrenzen könne.
Den "Flügel" nicht mehr beobachten zu dürfen, das tut dem Verfassungsschutz nicht weh. Denn er darf ja nun die gesamte AfD beobachten - als "Verdachtsfall". Dies nämlich erlauben die Richterinnen und Richter. Ein "Verdachtsfall" ist offiziell zwar nur eine Vorstufe zur Einstufung als "gesichert" rechtsextremistisch. Aber rein praktisch ist die Bedeutung für den Verfassungsschutz: genauso gut. Der Dienst darf die nachrichtendienstlichen Mittel bereits in vollem Umfang einsetzen. Das heißt, es darf losgehen mit dem Abhören von Telefonen, dem Abfangen von E-Mails, auch dem Einsatz von V-Leuten im Rahmen der Verhältnismäßigkeit.
"Wenn man ein Erdreich hat, das nach Öl riecht, kann man Probebohrungen vornehmen."
Die Verfassungsschützer müssen jetzt nur noch die Ausfertigung des schriftlichen Urteils abwarten, so kündigt es ihnen der Richter an. Dann, voraussichtlich in wenigen Wochen, werde er den "Hängebeschluss" aufheben, der bislang den Dienst gezwungen hatte, sich zurückzuhalten. Zwar seien auch hier die "tatsächlichen Anhaltspunkte" schwächer, als der Verfassungsschutz meine. Aber die Hürde liege auch niedriger. Das Prinzip "Verdachtsfall" erläutert der Vorsitzende Richter so: "Wenn man ein Erdreich hat, das nach Öl riecht, kann man Probebohrungen vornehmen."
So beginnt also die Beobachtung einer 30 000 Mitglieder starken Partei. In Thüringen, dem Landesverband des AfD-Rechtsaußen Björn Höcke, ist die gesamte AfD bereits heute als "gesichert extremistisch" eingestuft und unter voller Beobachtung des - allerdings dort über wenig Ressourcen verfügenden - Landesamts für Verfassungsschutz. Diese Beobachtung wird es nun im gesamten Bundesgebiet geben.
Nicht nur das 3000 Mitarbeiter starke Bundesamt für Verfassungsschutz, auch große Landesämter wie Bayern und Nordrhein-Westfalen werden jetzt mitziehen: Die Beobachtung als "Verdachtsfall" erfasst nun alle Landes- sowie auch Kommunalverbände der Partei. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bedeutet, dass Spionage-Methoden nur gegen besonders wichtige Personen der Partei eingesetzt werden. Zudem gilt für Abgeordnete ein besonderer Schutz vor Überwachung. V-Leute in Parlamenten darf es nicht geben.
Von dem Gerichtstag in Köln bleiben dann noch Szenen, die erahnen lassen, wie die AfD juristisch weiterkämpfen will - demnächst wohl in der Berufung. Da ist der Parteichef, Tino Chrupalla, der dem Richter erklärt: Björn Höcke sei bloß Landesvorsitzender in einem der kleinsten Bundesländer, eine im Grunde unwichtige Figur. Höcke sei "medial großgemacht" worden, der Mann äußere sich manchmal auf eine Weise, "von der ich mich distanziere".
Dass Äußerungen Höckes etwa über den vermeintlichen "afrikanischen Ausbreitungstyp" eine rote Linie überschreiten, darin bemühen sich die Vertreter der AfD dem Verfassungsschutz sogar zuzustimmen. Doch für "Entgleisungen" Einzelner könne man nicht alle in Mithaftung nehmen. Der Anwalt der AfD sagt einmal: "Dann soll man den Herrn Höcke beobachten, nicht die AfD."
Darin will diese Gerichtsinstanz der AfD dann doch nicht folgen. Wie sehr Politiker wie Björn Höcke in der Partei prägend und tonangebend seien, das sei schließlich keine "rein quantitative" Frage - und ein legitimer Gegenstand für weitere Ermittlungen des Verfassungsschutzes.