Bei der SPD ist so viel ins Rutschen geraten, dass die Probleme schon bei den Details anfangen. Parteichef Lars Klingbeil hatte am Wahlabend nach dem Absturz auf 16,4 Prozent seine Macht für die nahenden Koalitionsverhandlungen mit der Union gesichert, indem er forsch nach dem Fraktionssitz griff. Da er diesen aber schon nach 70 Tagen weiterreichte (nur Ludwig Stiegler stand im Jahr 2002 kürzer an der Fraktionsspitze), stellt sich die Frage, ob sein Foto trotzdem am Eingang zum Otto-Wels-Saal Platz finden soll. Denn in der Vorsitzendengalerie ist neben dem in der vergangenen Wahlperiode amtierenden Rolf Mützenich nur noch Platz für ein Bild. Aber das Foto von Matthias Miersch, dem aktuellen Amtsinhaber, müsste da ja auch noch aufgehängt werden.
Das etwas größere Detail war wochenlang die Frage, ob die SPD überhaupt ihren Saal im Reichstagsgebäude behalten darf. Denn nach der Bundestagswahl hat die AfD als zweitstärkste Kraft 151 Abgeordnete, die SPD nur noch 120 Parlamentarier. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ist sie bloß noch drittstärkste Partei. Dazu muss man wissen, dass der Saal der Unionsfraktion eine Größe von 463 Quadratmetern hat und der der SPD 462 Quadratmeter misst. Es folgen der bisher von der FDP genutzte Saal (251 Quadratmeter) und jener der Grünen (240 Quadratmeter).
Obwohl die AfD vehement darauf pocht, darf die SPD ihren Saal behalten. Das hat am Donnerstag der Ältestenrat des Bundestags entschieden. Der Raum ist nach Otto Wels benannt, dem sozialdemokratischen Fraktionschef, der sich 1933 den Nationalsozialisten mutig entgegenstellte und zur zentralen Identifikationsfigur der Partei im Kampf gegen Faschismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus wurde. Das ganze ist für die SPD also eine emotionale Angelegenheit.

Zumal sie ein etwas kurioses Argument anführt, warum trotz mehr als 80 Abgeordneten weniger ein Wechsel gar nicht möglich sei. An den Sitzungen würden schließlich auch viele Mitarbeiter aus dem Verwaltungsapparat der Bundesministerien teilnehmen. „Wir haben trotz des Punktes, dass wir kleiner geworden sind, auch tatsächliche viele Leute unterzubringen“, sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Dirk Wiese. Auch sei es wichtig, in unmittelbarer Nähe der Unionsfraktion zu sein, die aktuell direkt nebenan sitzt. Die AfD habe genügend Kapazitäten auf der anderen Seite. Die Entscheidung des Ältestenrats beruhe „rein auf fachlichen, sachlichen und sehr gut nachvollziehbaren Argumenten“, sagte Wiese am Donnerstag.
Die AfD-Fraktion soll nun aus ihrem bisherigen Raum in den größeren, früheren FDP-Saal umziehen. Aber während es sich bei der SPD nun sehr luftig anfühlt und viele Plätze frei bleiben, zeigte diese Woche ein Probesitzen der AfD-Fraktion, wie eng es dort zugeht. Die Rechtsaußenpartei hat auch viele Mitarbeiter, die dabei sein sollen. Die AfD-Abgeordneten zogen am Dienstag in den Fraktionssaal ein, um den Medien zu zeigen, wie dicht man aufeinander hockt. „Das ist einfach nicht zumutbar, ich sag’ das ganz offen für uns alle, und wir werden auch diesen Raum so nicht akzeptieren“, sagte Parteichef Tino Chrupalla unter dem Beifall der Abgeordneten. Dann zogen die AfDler wieder aus. Wörter wie Sardinenbüchse fielen, Legehennen-Vergleiche wurden gezogen.
Zuvor war sogar eigenes ein Gutachten erstellt worden, um die Raumfrage zu klären. „Für den ehemaligen Fraktionssitzungssaal der FDP ist eine Belegung mit 236 Personen aus brandschutzrechtlichen Rahmenbedingungen heraus als zulässig ermittelt worden“, sagt ein Sprecher des Bundestags. Auch die Großnichte von Wels schaltete sich ein, appellierte, dass die SPD ihren Saal behalten müsse.
Die AfD sieht einen „perfiden Plan“
Dies alles sei „Teil des perfiden Plans, die AfD in ihrer Arbeitsfähigkeit zu beschneiden“, sagte Bernd Baumann, der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, nach der Entscheidung am Donnerstag. „Die parlamentarische Arbeit ist so nicht möglich“. Wiese bezeichnete diese Klagen wenig später als „herbeigeredete Argumente“ und „Teil einer politischen Inszenierung, die die AfD betreibt“. Unionsfraktionschef Jens Spahn hatte seinerseits am Vortag in der ARD-Sendung „Maischberger“ zu Protokoll gegeben, „dass wir uns dabei nicht völlig wohlfühlen“. Am Ende unterstützte die Union die SPD im Ältestenrat zwar. „Aber ob es klug ist, die Frage ‚Wer hat welchen Sitzungssaal?‘ zur Existenzfrage der Demokratie zu erklären – da mache ich mein Fragezeichen“, sagte Spahn.
Doch ob dies nun das letzte Wort ist? Ende Februar, kurz nach der Bundestagswahl, marschierte der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner, begleitet von einer Kamera, hinüber in den Otto-Wels-Saal der SPD. Das Video trägt den Titel: „Wir lüften den Otto-Wels-Saal durch.“ Brandner schaut darin auf die Galerie der SPD-Fraktionsvorsitzenden. Da würden dann bald die Porträts von Alice Weidel und Tino Chrupalla hängen, meint er, der Chefs der AfD-Fraktion.
Auf der anderen Seite im Foyer hängt ein großes Bild von Otto Wels. Nur die Sozialdemokraten stimmten als Reichstagsfraktion am 23. März 1933 gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz, das Deutschland endgültig zur Diktatur machte. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“, sagte Wels in seiner Rede. Deshalb ist der Streit so aufgeladen. Brandner sagt in dem Video, er selbst habe eine Rede wie Wels auch schon mal gehalten, während der Corona-Zeit: „Da ging es auch um die Frage, wie man mit Oppositionellen umgeht.“ Dann geht er in den Saal hinein: „Ist ganz schön.“ Übrigens sei der Otto Wels ja ein netter Mensch gewesen: „Eine Umbenennung, da wäre ich gar nicht unbedingt für.“ Sein Fraktionskollege Bernd Baumann habe letztens gesagt, Otto Wels wäre heute in der AfD.
Die zweitgrößte Fraktion droht mit einer Klage
Es mag nur eine eigentlich unbedeutende Raumfrage sein. Sie illustriert aber, wie sehr die AfD das Spiel mit Provokation und Verdrehung beherrscht. Und wie zugleich die Politik des Ignorierens der ihr eigentlich zustehenden Rechte an Grenzen kommt. Technisch könnte die SPD auch in einen anderen Saal ziehen, diesen nach Otto Wels benennen und die Bilder dort neu anbringen. AfD-Mann Baumann aber pocht auf einen Umzug. Nach der Geschäftsordnung des Bundestags seien die Ressourcen nach Stärke der Fraktionen zu verteilen: „Damit steht uns der zweitgrößte Fraktionssaal zu.“ Sollte sie den Saal nicht bekommen, werde die AfD mit allen, auch rechtsstaatlichen Mitteln, dagegen vorgehen und klagen.
Damit aber AfD-Leute nicht erneut provokante Videos drehen, schließen die Sozialdemokraten ihren Fraktionssaal jetzt immer ab.