Sachsen:Stolz statt Vorurteil

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Am Rand des Erzgebirges, 20 Minuten östlich von Chemnitz, liegt Augustusburg.

(Foto: imago/Rainer Weisflog)

Dirk Neubauer ist Sozialdemokrat und Bürgermeister einer Kleinstadt bei Chemnitz, in der fast jeder Dritte AfD wählt. Über einen, der versucht, die Stimmung zu drehen.

Von Ulrike Nimz, Augustusburg

Die Stadt Augustusburg ist bekannt für ihr Jagdschloss und ein Motorradtreffen jeden Winter. Weniger bekannt ist das Einheitsdenkmal, das unterhalb des Schlosses auf der Wiese steht. Man muss schon nah herantreten, um zu sehen, dass ein Riss durch das Kunstwerk geht, dass es eigentlich zwei Steine sind: Der große stammt aus dem Teutoburger Wald und symbolisiert den Westen. Der kleine aus dem sächsischen Rochlitz steht für den Osten. Beide werden nur durch ein Bronzeband zusammengehalten. Die Plastik haben sie kurz nach der Wende aufgestellt, lange bevor Dirk Neubauer Bürgermeister wurde, aber diese in Stein gefasste Skepsis spricht zu ihm. Sie begegnet ihm im Rathaus der 4500-Einwohner-Stadt, auf der Straße, im Netz.

Seit der Bundestagswahl diskutiert das ganze Land über den Osten im Allgemeinen und Sachsen im Besonderen. Aus Analysen, Kommentaren, Hörensagen formt sich das Bild eines Landstrichs zwischen Protest und Phlegma. Woran liegt es, dass gesellschaftliche Verwerfungen hier deutlicher zutage treten als anderswo?

Dirk Neubauer, 47, Sneakers, Dreitagebart, hat sich diese Frage oft gestellt. Er stammt aus Halle, hat eine Weile Sozialpädagogik studiert, an einer Tankstelle Autos gewaschen, in einer U2-Coverband gesungen. Freunde nennen ihn Zono - den Bono aus der Zone. In den Neunzigern berichtete Neubauer als Reporter für die Mitteldeutsche Zeitung über die Oderflut, ostdeutsche Spargelstecher, die Plattenbauten in Halle-Neustadt. Dass er wenig für die Menschen tun konnte, außer über sie zu schreiben, habe ihn betrübt, sagt er. 15 Jahre ist es her, dass Neubauer nach Augustusburg bei Chemnitz zog und eine Kaffeerösterei eröffnete. 2013 kandidierte er als Bürgermeister und gewann, seitdem ist er nicht nur Geschäftsmann, sondern auch Beamter auf Zeit. Auf seinem Blog schrieb er: "Ihr habt es geschafft!"

Sachsen: Dirk Neubauer, 48, ist seit 2013 Chef der sächsischen Kleinstadt Augustusburg, seit 2017 Mitglied der SPD. Kürzlich erschien sein erstes Buch: "Das Problem sind wir: Ein Bürgermeister in Sachsen kämpft für die Demokratie".

Dirk Neubauer, 48, ist seit 2013 Chef der sächsischen Kleinstadt Augustusburg, seit 2017 Mitglied der SPD. Kürzlich erschien sein erstes Buch: "Das Problem sind wir: Ein Bürgermeister in Sachsen kämpft für die Demokratie".

(Foto: Ulrike Nimz)

Dirk Neubauers Büro ist nicht sehr groß, er hat die Zinnteller entsorgt, die ockerfarbenen Wände überstreichen lassen, die doppelte Buchführung eingeführt und einen Doppelhaushalt. Im nächsten Jahr soll die Verwaltung papierfrei sein. Noch blättert sich der Bürgermeister an der Seite von Kämmerer und Bauamtsleiter durch Angebote und Bauvorhaben: Vor der Sparkasse soll eine Sommerlinde gepflanzt werden, die Grundschule eine neue Zufahrt bekommen. Der Schwibbogen am Ortseingang muss repariert, ein Sackgassenschild versetzt werden. Neubauer schenkt der Runde Kaffee nach, weiter mit der Post. Ein Bürger beklagt, dass er wegen eines neu eingerichteten Parkverbots nun auf der gegenüberliegenden Straßenseite entladen muss. Ein anderer schimpft über einen Sandberg, der sich ohne sichtbaren Nutzen im Ort erhebt, droht mit Dienstaufsichtsbeschwerde. Es sind nicht die Bagatellen, es ist der Ton, der Neubauer Sorgen macht. Jedes Knöllchen werde zum Anlass genommen, um gegen die vermeintliche Ungerechtigkeit im Land und "die da oben" zu wettern, sagt er: "Wenn Menschen sich lieber hinsetzen und einen Drohbrief ohne Absender verfassen, statt gemeinsam nach Lösungen zu suchen, haben wir ein Problem."

Auch deshalb hat Neubauer das Gesprächsformat "LiveTalk#Politik" gestartet. Einmal im Monat lädt er einen Volksvertreter ins Stadthaus zum Interview, sammelt vorab die Fragen der Bürger. Als Anfang Mai Martin Dulig zu Gast war, Sachsens Wirtschaftsminister und seit kurzem Ostbeauftragter der SPD, blieb nicht nur der Livestream auf der Strecke, sondern auch ein Teil der Stühle leer. Dirk Neubauer hätte gern dem Sonnenschein die Schuld gegeben, aber als er später Stadtratsmitglieder fragte, warum sie fern geblieben waren, erklärten diese, man habe ja keine persönliche Einladung erhalten.

Die Bürger dürfen jetzt in Filmchen erzählen, von der Baumkuchenmaschine

Nun ist Demokratie keine Party, zu der man eingeladen wird. Demokratie ist eine Party, die man ausrichtet. Als die Stadt zu Beginn des Jahres 100 000 Euro übrig hatte, weil der Freistaat die kommunalen Kosten des Breitbandausbaus übernimmt, gründete Dirk Neubauer das Internetportal "Mein Augustusburg". Dort können Bürger Vorschläge machen, wofür das Geld eingesetzt werden soll. Ebenfalls Idee des Bürgermeisters war das Projekt "Kleinstadtmenschen", eine Art virtueller Stadtrundgang. In kurzen Filmen erzählen Augustusburger von dem, was sie prägt und bewegt: der Konditor von der Faszination einer Baumkuchenmaschine, der Enkel des Zigarrenfabrikanten vom Frühling 1945. Als weiße Bettwäsche in den Gassen wehte und die Russen das Porzellan aus dem Schloss trugen, das zwölf Jahre lang eine Gauführerschule gewesen war.

Dirk Neubauer hat gelernt, wie man eine Geschichte gut erzählt, und wenn er von seiner Vision einer digitalen Kleinstadt spricht, von Glasfaser und gläsernem Rathaus, wird klar, warum die Augustusburger einen zugezogenen Journalisten zum Bürgermeister machten. Warum bei der Bundestagswahl vier Jahre später trotzdem fast jeder Dritte AfD wählte, ist das Rätsel, das es zu lösen gilt. Dirk Neubauer war damals gerade neu in die SPD eingetreten. Er ist nun der einzige Sozialdemokrat im Stadtrat. Als der ursprünglich parteilose Bürgermeister die Entscheidung auf seinem Blog damit begründete, das System von innen verändern zu wollen, witterten einige der Kommentatoren Verrat. Die SED mag Geschichte sein, aber ein Parteibuch ist für viele Menschen im Osten bis heute kein Ausweis von Eignung und Engagement, sondern Anlass zu Misstrauen. Wer diesen Weg in die Politik wählt, muss auf den Vorwurf gefasst sein, mehr der eigenen Karriere zu dienen als den Bürgern.

Bürgermeister statt Wutbürger

Wer durch die frühen Einträge in Dirk Neubauers Netztagebuchs scrollt, ahnt, dass ihm solche Gefühle nicht fremd sind. In düsteren Assoziationsketten schreibt er über eine entrückte Politik, ein wankendes Europa und enttäuschte Hoffnungen. Es liest sich wie ein literarischer Wendekater: "Warum die Revolution, wenn dann doch alle mit der neuen Freiheit nicht Besseres anzufangen wissen, als mehr angeln zu gehen?" Aus den Zeilen spricht jenes Unbehagen, das im Osten des Landes schon spürbar war, bevor Pegida es mit Hass verrührt auf die Straße kippte. Dirk Neubauer sagt, er habe andere Schlüsse gezogen: Statt Wutbürger wurde er Bürgermeister. Und als solcher verurteilt Neubauer Fremdenfeindlichkeit mit einer Selbstverständlichkeit, die in Sachsen nicht selbstverständlich ist. Was er mit den Besorgten teilt, die sich in Augustusburg in einer Gaststätte treffen, die ausgerechnet "Höckericht" heißt? Die Einschätzung, dass die Menschen ihren Stolz wiederfinden müssen. Kein aus Herkunft oder Hautfarbe gespeistes Überlegenheitsgefühl, sondern die Gewissheit, aus eigener Kraft etwas bewegen zu können, und sei es nur ein Sackgassenschild.

Also füttert er das Netz mit Filmchen vom Pfingstfest, der Freibadwiese, der Spielpatzeröffnung. So als wolle er denen, die mal wieder zu Hause geblieben sind, zurufen: Schau, deine Stadt ist schön! Nachdem das Sturmtief Friederike Bäume gefällt hatte, kletterte er für eine Videobotschaft auf das Dach des Regenbogengymnasiums, dankte der Feuerwehr und sagte: "Ist alles nur Geld, Versicherung, Trallala." Momente, in denen ihn der Optimismus verlässt, sind selten.

Anfang des Jahres zog eine Familie aus dem Libanon hierher, zwei Kinder, ein paar Brocken Englisch. Der Landkreis hatte sie in einer Erdgeschosswohnung untergebracht, zwei Metallspinde und Stahlrohrbetten. Man hatte ihnen erklärt, wie die Mülltrennung funktioniert, aber nicht, wo der Supermarkt ist. Der Bürgermeister erfuhr erst zwei Tage später von ihrer Ankunft und auch nur, weil jemand Licht im gardinenlosen Fenster sah. Am Ende eines langen Tages setzte Dirk Neubauer sich vor seine Laptopkamera und warf den Behörden Versagen vor. "Stellen Sie sich vor, Ihre Familie wird mit vier Plastiktüten in Beirut abgeworfen." Das Video bekam 86 Likes und Neubauer eine Dienstaufsichtsbeschwerde. Er sagt: "Es musste raus."

Facebook gilt als Instrument der Wütenden. Aber das Netzwerk hat den Austausch zwischen Bürgern und ihren Meistern auch einfacher gemacht. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer hat das verstanden. Auch er postet, nach der Kabinettssitzung, auf dem Töpfermarkt, mit Sense im Garten. Was, wenn der Osten nicht weniger Populisten braucht, sondern mehr - Werber für Bürgerbeteiligung, differenzierte Debatten, die Schönheit des sächsischen Hinterlandes?

Dirk Neubauer lenkt sein Auto an die Tankstelle, es ist Mittagszeit. Über den Tresen gehen Kaffee und Marlboro Gold. Im Fenster wirbt ein Plakat für ein Benefizkonzert. Der Sturm hat auch das "Klein-Erzgebirge" in Trümmer gelegt, einen Miniaturpark voller handgefertigter Häuschen, Brücken, Schlösser. Der Bürgermeister selbst wird singen. Sein Lieblingslied von U2 ist "One". Der Song handelt von einer schmerzlichen Trennung und wird in Deutschland gern als Wiedervereinigungshymne interpretiert. Anschließend werden sie alles reparieren.

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