Der Geruch von Alkohol tränkt die stickige Luft, jeder Tisch ist besetzt in der urigen Weinstube in der Münchner Innenstadt. Ein rundlicher Mann mit grau meliertem Bart fragt lächelnd, ob er sich dazusetzen darf. Als er die ersten Gesprächsfetzen mitbekommt, verzieht er das Gesicht und schnaubt. Maria Fichte fragt ihn: "Sie wählen wohl nicht die Alternative für Deutschland?" Die blonde Rentnerin hat zuvor wild gestikuliert und der Journalistin mit fester Stimme ihre politischen Ansichten dargelegt. So laut, als sei es ihr gleich, dass nicht nur der Tischnachbar jedes Wort hören kann. Jetzt ist sie verstummt und mustert ihn eindringlich. "Was wählen Sie?" Der Mann grummelt in seinen Bart hinein, die Wangen laufen dunkelrosa an. "Die Grünen?", wiederholt Fichte seine Antwort und grinst. "Wie niedlich."
Maria Fichte ist eine Rarität. Der durchschnittliche AfD-Wähler ist männlich und zwischen 35 und 59 Jahre alt. Fichte hingegen ist eine zierliche Dame, 70 Jahre alt, was man ihr aber nicht ansieht. Sie hat ihre Haare sorgsam frisiert, trägt viel Modeschmuck und ein paar geerbte Diamanten, ihre Augen sind mit einem smaragdgrünen Lidstrich umrahmt. Früher war sie CSU-Wählerin und das, was sie selbst als "Karrierefrau durch und durch" bezeichnet. Sie hat alleine eine Tochter großgezogen und sieht sich als Frauenrechtlerin. Was führt so jemanden in die rechtsradikale AfD? Die Partei ist ja nicht nur eine Antimigrationspartei, sie predigt ein völkisch-nationalistisches Frauenbild. Sie spricht sich in ihrem Programm dagegen aus, "Einelternfamilien als erstrebenswerten Lebensentwurf zu propagieren". Lehnt Frauenquoten und gendergerechte Sprache ab. In der Bundestagsfraktion der AfD sitzen 82 Männer neben zehn Frauen.
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"Kommen Sie, wir gehen. Hier können wir nicht in Ruhe reden - und überhaupt, haben Sie gesehen, was hier ein Kaffee kostet?" Fichte springt auf. Die Rentnerin schlüpft in ihren Mantel und bindet sich ein gemustertes Seidentuch um den Hals. "3,10 Euro! Eine Unverschämtheit, wer soll sich das denn in meinem Alter leisten? Da sind ja alle in der Altersarmut!"
Fichte ist seit einigen Monaten AfD-Mitglied. Eigentlich will sie ihre neue politische Heimat nicht verschweigen, aber sie fürchtet die Reaktionen in ihrem Umfeld. Enge Freundinnen hätten ihr deshalb schon die Freundschaft gekündigt. Und als sie ihrer Tochter von ihrem Parteieintritt erzählte, habe die nur geschrien. Deswegen will sie in diesem Text nicht unter ihrem echten Namen erscheinen, weitere Hinweise auf ihre Identität wurden geändert. Andere AfD-Wählerinnen, die für diese Recherche befragt wurden, sind noch verschlossener und lehnen Zitate in der Presse komplett ab.
Zahl der weiblichen Mitglieder stieg auf mehr als 17 Prozent
Jahrelang hieß es, dass Frauen weit weniger empfänglich für Rechtspopulismus seien. Dass ihnen die Rhetorik zu martialisch sei, die Parteiwerbung zu sexistisch. Im historischen Vergleich haben Frauen zwar durchaus manchmal rechter als die Männer gewählt, beispielsweise nach dem Ersten Weltkrieg. Aber hätte 2017 nur die weibliche Hälfte der Bevölkerung abgestimmt, wäre Donald Trump nicht US-Präsident geworden und die AfD hätte neun statt dreizehn Prozent bei der Bundestagswahl bekommen. Experten bezeichnen dieses unterschiedliche Wahlverhalten als "Radical Right Gender Gap".
Nun stieg die Zahl der weiblichen Mitglieder in der AfD im vergangenen Jahr von 13 auf mehr als 17 Prozent. Das ist zwar immer noch eine Minderheit, aber eine, die wächst. Und bisherige Gewissheiten in Frage stellt. 2019 werden das Europäische Parlament, die Bremische Bürgerschaft und die Landtage in Sachsen, Thüringen und Brandenburg gewählt. Was, wenn die AfD diesmal deutlich mehr Frauen anspricht, sich der "Radical Right Gender Gap" langsam schließt?
In Frankreich ist das längst der Fall. Marine Le Pen, die Chefin des französischen Rassemblement National, hat das weibliche Wählerpotenzial schon vor Jahren erkannt. Sie inszeniert sich als Mutter, als Anwältin, als Tochter, als Alleinerziehende, als Politikerin. Sie mimt die aggressive Angreiferin im einen Moment und im anderen die fürsorgliche Mutter der Nation. Bei der vergangenen Präsidentschaftswahl 2017 stimmten schon genauso viele Frauen wie Männer für sie. Umstritten ist unter Experten, ob das vor allem daran liegt, dass Le Pen weiblich ist.
Denn auch die AfD stellte jahrelang Frauke Petry in die erste Reihe - oder jetzt Alice Weidel und Beatrix von Storch. Von Wahlergebnissen wie in Frankreich ist sie weit entfernt. Die AfD hat das Wählerinnenpotenzial aber erkannt, das zeigt die Gründung von FridA (Frauen in der Alternative) im November - die Arbeitsgemeinschaft soll gezielt Frauen in die AfD holen. Allerdings: Nicht jede scheint erwünscht zu sein. Die AfD-Abgeordnete Nicole Höchst sagt in einem Youtube-Video über FridA: "Wir sind kein Netzwerkgedönse für frigide alte Frauen, die es im Leben zu nichts gebracht haben. Wir brauchen keine überemanzipierten Frauen, deren großes Hassobjekt der weiße Mann jenseits der 50 ist."
Dass es hinter den Fassaden nicht viel frauenfreundlicher aussieht, beschreibt die AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber. Die Sächsin trat 2013 der Partei bei, wurde 2017 Mitglied im Bundesvorstand. Kurz vor der Bundestagswahl stieg sie aus. Die AfD kämpfe rigoros gegen Gleichberechtigung, Sexismus sei weit verbreitet, schreibt sie in einem autobiografischen Buch, das sie über ihre Zeit als Funktionärin herausbrachte. Eine Frau sei für die meisten in der Partei nur eine schöne Hülle, die man irgendwo hinstellen könne. Zudem werde die AfD immer rechtsradikaler - und gehe ganz und gar nicht sanft mit Kritikern um. Nachdem sie sich öffentlich von der Partei abgewandt hatte, sei sie bedroht und beschimpft worden, sagt Schreiber.
An Maria Fichte perlt solche Kritik ab. "Ach, die Kollegen in der AfD sind alle meine Brüder. Man muss sich zwar durchsetzen. Aber wissen Sie was?", fragt Fichte und lehnt sich vor. "Ich habe eine große Klappe." Sie sitzt nun in einem Café, der Kellner im Anzug bringt Obsttörtchen und Sprudel. Die Rentnerin ist deutlich entspannter als beim Gespräch in der Weinstube, schwelgt in Erinnerungen an ihre erfolgreichen Jahre in München. Sie habe gegenüber bei einem italienischen Modelabel einen Managerposten ausgeübt und sei in der Mittagspause oft herübergekommen. Fichte macht kaum Pausen, wenn sie spricht. Sie sagt nicht AfD, sondern Alternative für Deutschland und betont dabei jede Silbe. AL-TER-NA-TI-VE. Für sie ist ihre Partei weder rechtspopulistisch noch rassistisch, sondern die einzige Rettung für Deutschland. Deshalb gehe sie als AfD-Mitglied auf die Menschen zu, auch wenn sie komplett anders wählen als sie selbst, wie der ältere Grünen-Wähler in der Weinstube. "Bevor er von der Alternative gehört hat, war er total freundlich. Und plötzlich war ich für ihn Eva Braun." Fichte lacht laut auf. Der Vergleich mit Adolf Hitlers Geliebter amüsiert sie.
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Dann erzählt sie ohne merkliche Gesichtsregungen, dass sie die sogenannte Flüchtlingskrise als ein "abgekartetes Spiel" sieht, der Krieg in Syrien sei "nur ein Alibi dafür, Deutschland und Europa zu entdemokratisieren". Nach dem Hintergrund für solche Behauptungen gefragt, verweist sie auf geheime Zirkel, in denen sie sich bewege. Mit der Vogelschiss-Aussage von AfD-Parteichef Alexander Gauland über den Nationalsozialismus oder der Spendenaffäre konfrontiert, weicht sie aus und verteidigt die Partei, diese werde immer missverstanden und zu Unrecht verteufelt.
Im nächsten Moment erzählt Fichte lächelnd von ihrer erwachsenen Tochter. Sie holt ihr schwarzes Lederportemonnaie heraus und legt es geöffnet auf die Marmorplatte des Tisches. Sie zeigt auf alte Fotos von einem blonden Kleinkind. Dann auf ein fünfjähriges Mädchen in kurzen Hosen. Die Schwangerschaft mit ihr sei ungeplant gewesen. "Mein Chef damals hat gesagt: Komm, wir nehmen mein Auto, in ein paar Stunden sind wir in den Niederlanden. Da wirst du das Kind los." Sie zuckt mit den Schultern, als Frau habe man es noch nie leicht gehabt, heute aber noch schwerer als damals, sagt Fichte. Sie habe immer hart gearbeitet, nie Zeit für ihre Tochter gehabt. Deshalb könne sie verstehen, wenn die AfD eine Mutter lieber zu Hause bei ihren Kindern sieht. "Ich habe es bestimmt nicht richtig gemacht als Emanze und Karrierefrau. Meine Tochter sagt heute: Meine Kindheit war scheiße, du warst ja immer im Stress." Aber würde sie aus heutiger Sicht wirklich ein Leben als Hausfrau vorziehen, wie es die AfD propagiert? Fichte weicht aus, lässt Verunsicherung hinter dem selbstbewussten Auftreten erkennen. Und Angst.
Obwohl sie immer gerarbeitet habe, komme sie in Rente gerade noch so über die Runden, sagt die zierliche Frau. Und so gehe es allen in ihrem Umfeld. "Ich habe richtig Schiss. Eine Freundin von mir hat schon gemeint, wenn sie sich das Leben in ein paar Jahren nicht mehr leisten kann, begibt sie sich in die Schweiz." In die Schweiz? "Ja, um sich einschläfern zu lassen."
Es sind die vielen Episoden aus Fichtes Leben, die zusammengefügt den Widerspruch der AfD-wählenden emanzipierten Frau ein wenig auflösen. Die verständlicher machen, warum sich jemand politisch radikalisiert. Die aber nicht abmildern können, dass Fichte aus voller Überzeugung solche Sätze sagt: "Wir Deutschen fahren mit der Tram und müssen stehen, während die jungen Asylanten lachend mehrere Sitzplätze blockieren. Die werden von uns eingekleidet und mit Handys ausgestattet. Und die Deutschen stehen. Da stimmt etwas nicht im Gefüge."
Die Berliner Politologin und Juristin Elisa Gutsche kennt solche Argumentationen. "Rassistische Impulse tauchen immer wieder auf, wenn Menschen Angst um ihre finanzielle Situation und ihre Zukunft haben", erklärt sie. Für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung hat sie eine große Länderstudie zum wachsenden Interesse von Frauen an rechtspopulistischen Parteien in Europa herausgebracht. "Ein Statusverlust kann zu Radikalisierung führen." Frauen und Männer unterscheiden sich demnach gar nicht groß in ihren Beweggründen, rechts zu wählen.
Politologin: "Frauenquote nicht oberste Priorität, wenn man Miete nicht zahlen kann"
Es lasse sich beobachten, dass rechtspopulistische Parteien in anderen Ländern sobald sie regieren eine frauenfeindliche Politik verfolgen, sagt Gutsche. So wurden in Österreich und Polen massiv Geld für Frauenberatungsstellen und Gleichstellungspolitik gestrichen. Doch das werde von vielen Wählerinnen dieser Parteien offenbar in Kauf genommen. "Eine Frauenquote ist nicht die oberste Priorität, wenn man Probleme hat, die Miete zu bezahlen", sagt Gutsche. Die Politologin ist sicher, dass die AfD 2019 soziale Ängste ins Zentrum ihres Wahlkampfes stellen werde. Für die Rechten sei das ein Mittel, um Stimmen zu holen und zu wachsen. Und beispielsweise frühere CSU-Wähler wie Maria Fichte in die Partei zu holen.
Die frühere Funktionärin Franziska Schreiber kennt diese Strategie aus ihrer Zeit in der AfD. Sie habe damals in einer Parallelwelt gelebt, erzählt sie in einem Interview mit der ARD. Die Partei suggeriere permanent, dass Frauen durch Migranten vergewaltigt werden. "Damit macht man ihnen Angst. Dann sind sie auch eher bereit, eine Partei zu wählen, mit der sie sonst eigentlich wenig gemeinsam haben. Und die sonst auch relativ wenig für sie tut."
Über den Antifeminismus rechter Parteien sehen viele deshalb hinweg, sagt Politologin Gutsche. Aber viele Frauen teilen ihn auch. Wie widersprüchlich das sein kann, zeigt sich bei Fichte. Sie tritt laut und bestimmt auf, will Frauenrechtlerin genannt werden; Feministin aber lieber nicht. Fallen die Worte "Me Too" oder "Gendern", verdreht die blonde Rentnerin die Augen. "Es gibt so viele Frauen, die schwach sind und das brauchen. Da schäme ich mich für mein eigenes Geschlecht." Sie macht eine Pause. "Ich musste schließlich auch immer stark sein."