Süddeutsche Zeitung

Deutscher Ärztetag:Doktorarbeit für den dritten Herbst

Beim Deutschen Ärztetag verspricht Gesundheitsminister Karl Lauterbach, neue Strategien gegen steigende Corona-Fallzahlen vorzubereiten. Auch die Affenpocken nehme man ernst. Von den Delegierten erntet er viel Zuspruch - aber auch Kritik.

Von Michaela Schwinn, München

"Wir müssen vorbereitet sein", gleich mehrmals fiel dieser Satz am Dienstagmorgen beim Deutschen Ärztetag in Bremen. Vorbereitet auf eine neue Corona-Welle im Herbst, die das Gesundheitssystem wieder ans Limit bringen könnte. Aber auch auf neue Erreger wie etwa die Affenpocken, die in den vergangenen Tagen in einer ungewöhnlichen Häufung in Deutschland und anderen europäischen Ländern registriert wurden.

Zwar ist es um das Coronavirus gerade etwas ruhiger geworden: Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen sinkt stetig, auch die Lage in den Krankenhäusern scheint entspannt. Trotzdem warnte der Präsident der Bundesärztekammer Klaus Reinhardt gleich zu Beginn der Veranstaltung davor, das Risiko durch Covid-19 zu unterschätzen: "Wir alle gehen davon aus, dass die Infektionszahlen im Herbst aller Voraussicht nach wieder steigen werden", sagte er und forderte die Regierung auf, sofort zu handeln.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bekräftigte vor den Delegierten des Ärztetages, dass sein Ministerium bereits intensiv daran arbeite: "Der dritte Herbst kann nicht verlaufen, wie der zweite", sagte er. Auf eine neue Welle, aber auch auf neue Erreger nicht vorbereitet zu sein, "wäre eine kollektive Dummheit und ein Skandal". Sein Ministerium erarbeite gerade eine neue Impf-, Test- und Behandlungsstrategie. Auch werde ein neues Infektionsschutzgesetz benötigt, das sich nicht alleine auf eine Maskenpflicht in Innenräumen beschränke, sagte Lauterbach. Was derzeit an Instrumenten vorhanden sei, werde nicht ausreichen.

Der Ärztepräsident mahnt, Schulen und Kitas offen zu halten

Impfen, Testen und bessere Behandlungsmethoden hält auch Ärztepräsident Reinhardt für essentiell im weiteren Umgang mit der Pandemie. Aber etwas anderes dürfte dabei nicht vergessen werden: Strategien, um Kitas und Schulen offen zu halten. "Heute wissen wir, welche enormen Schäden die monatelange Isolation durch die Kontaktbeschränkungen bei Kindern und Jugendlichen angerichtet haben", sagte Reinhardt. Viele von ihnen hätten Einsamkeit, Angst und Gewalt erlebt. Beim Ärztetag werde man deshalb mit Experten darüber diskutieren, wie den Kindern und Jugendlichen am besten geholfen werden könne.

Während also die Maßnahmen zur Eindämmung von Corona vor-und nachbereitet werden, macht aber bereits ein neuer Erreger von sich reden: die Affenpocken. Vergangenen Freitag war der erste Fall der Viruserkrankung in Deutschland bekannt geworden. Inzwischen gebe es fünf Infizierte in Deutschland und insgesamt 177 Fälle weltweit in 16 Ländern, sagte der Chef des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler bei einer Pressekonferenz am Rande des Ärztetages. Das vermehrte Auftreten der Affenpocken sei laut Gesundheitsminister Lauterbach nicht "der Beginn einer neuen Pandemie". Aber man müsse den Ausbruch trotzdem ernst nehmen und schnell handeln: "Wir haben noch sehr gute Chancen, den Erreger zu stoppen - nicht nur in Deutschland, auch in Europa."

Um die Ausbreitung zu stoppen, empfiehlt das RKI daher eine Isolation von mindestens 21 Tagen für alle Infizierten und deren Kontaktpersonen. Außerdem habe Deutschland prophylaktisch 40 000 Dosen eines in den USA zugelassenen Impfstoffes bestellt, der wirksam gegen eine Ansteckung hilft und "unmittelbar eingesetzt werden könnte", sagte Lauterbach. Die Infektionen betreffen derzeit in erster Linie Männer, die Sex mit anderen Männern hatten, so Lauterbach. Es könnten sich aber auch Frauen oder Kinder mit dem Virus anstecken. Symptome der Krankheit sind Fieber, Kopf- und Muskelschmerzen und Hautausschlag. Die meisten Menschen erholten sich in der Regel innerhalb weniger Wochen, sagte RKI-Chef Wieler.

Aktuelle Krisen, alte Baustellen

Beim Ärztetag ging es aber nicht nur um aktuelle Krisen, sondern auch um alte Baustellen: Den Ärztemangel, die lahmende Digitalisierung, die Krankenhausfinanzierung, den Pflegenotstand. An vielen Stellen konnte Lauterbach mit seiner Rede bei den Ärzten punkten: "Wir brauchen mehr Medizinstudienplätze", "weniger Bürokratie" und eine Digitalisierung des Gesundheitswesens, die auch wirklich in der Praxis funktioniere. Dafür erhielt er am Dienstag viel Zuspruch und Applaus.

Bei aller Einigkeit musste der Gesundheitsminister aber auch Kritik von Seiten der Ärzteschaft hinnehmen. So wünschten sie sich mehr Mitspracherecht bei großen Veränderungen wie etwa der anstehenden Krankenhausreform, sagte Ärztepräsident Reinhardt. Ein weiteres Anliegen konnte Lauterbach am Dienstag kaum abwehren - denn es wurde ihm persönlich als Gastgeschenk überreicht: Ein dickes Buch mit der Aufschrift "GOÄ". Es ist der Entwurf einer Novelle der Gebührenordnung für Ärzte - die Grundlage für die Vergütung ihrer Leistungen und ein Dauerstreitpunkt schon seit Jahren. Die derzeitige Gebührenordnung sei "völlig veraltet", eine Reform dringend nötig, sagte Reinhardt. "Geschehen ist bisher nichts und wir empfinden das als Affront." Lauterbach dämpfte allerdings die Hoffnung, dass sich daran bald etwas ändern wird: Er nahm das Buch, schmunzelte, sagte: "Ich werde das vorurteilsfrei prüfen", dann ging er von der Bühne.

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