Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Mehr als 30 Tote im Ärmelkanal

Viele Migranten sterben beim Versuch, mit Schlauchbooten von Frankreich nach Großbritannien zu gelangen. Präsident Macron sagt, Frankreich werde nicht zulassen, dass der Kanal sich in einen Friedhof verwandele.

Von Michael Neudecker, London

Mindestens 31 Menschen sind am Mittwochabend beim Versuch ums Leben gekommen, von Frankreich mit einem Schlauchboot nach England zu gelangen. Ein französischer Fischer, hieß es, habe Alarm geschlagen, als er mehrere Leichen im Wasser vor dem Hafen von Calais treiben sah. Es handle sich um die höchste Zahl an Migranten seit Jahren, die bei der Flucht im Kanal zwischen England und Frankreich gestorben sind, teilte die britische Polizei mit. Darunter befanden sich fünf Frauen und ein kleines Mädchen, teilte Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin am Mittwochabend in Calais mit. Zwei weitere Menschen, die sich auf dem Boot befanden, wurden demnach gerettet. Vier Schleuser, die möglicherweise an der gescheiterten Überfahrt von Frankreich aus beteiligt waren, seien festgenommen worden. Die offizielle Zahl der Toten sowie der Überlebenden änderte sich am Mittwochabend mehrmals, die französischen Rettungsmannschaften suchten in der Dunkelheit fortwährend nach Überlebenden im kalten Wasser.

Der französische Präsident Emmanuel Macron rief zu einer Krisensitzung auf. Frankreich werde nicht zulassen, dass der Ärmelkanal sich in einen Friedhof verwandele und Schleuser Menschenleben in Gefahr brächten. Die Mittel der Grenzschutzagentur Frontex an den Außengrenzen der EU müssten unverzüglich erhöht werden.

Die Tragödie ereignete sich einen Tag nachdem die britische Innenministerin Priti Patel verkündet hatte, es werde bald weitere Gespräche zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich geben, um die Situation im Kanal zu erörtern. Seit Monaten beschäftigt das Thema die Regierungen auf beiden Seiten des Kanals, immer wieder wurde gewarnt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis etwas passiere.

Die Zahl der Geflüchteten im Kanal steigt seit Monaten kontinuierlich. Bislang wurden 25 700 Menschen gezählt, die auf diesem Weg in England ankamen, das sind mehr als drei Mal so viele wie im gesamten vergangenen Jahr. Auch die Pandemie dürfte dazu ihren Beitrag geleistet haben: Andere Flüchtlingsrouten, etwa via Lastwagen, waren wegen der Einreisebestimmungen lange nicht möglich gewesen. Die Zahl illegaler Einwanderer, die Frankreich auf diesem Weg verließen, sei "inakzeptabel", sagte Patel vor ein paar Tagen. Die Zahl liegt allerdings immer noch weit unter den Flüchtlingszahlen, die Länder wie Deutschland oder auch Frankreich in diesem Jahr bislang registriert haben.

Premier Johnson "schockiert und traurig"

Die Schiffsroute durch den Ärmelkanal gilt als die am stärksten frequentierte der Welt, das Wasser dort ist auch wegen des Wetters oft rau, zudem ist das Wasser kalt. Am Mittwoch wurde eine Wassertemperatur von etwas über 13 Grad gemessen.

Die BBC zeigte am Mittwochabend Bilder von Menschen, die noch am Mittwochmorgen in Calais vom Strand durch das Wasser wateten, um ein völlig überfülltes Schlauchboot zu besteigen. Die britischen Behörden beschuldigten die französischen Behörden seit Wochen, zu wenig zu tun, um die Flüchtlinge von der gefährlichen Überfahrt von Calais nach Dover abzuhalten. Nach Informationen der BBC sollen ungefähr 25 Boote am Mittwoch versucht haben, den Kanal zu durchqueren.

Der britische Premierminister Boris Johnson wie auch der französische Premierminister Jean Castex drückten am Mittwochabend den Hinterbliebenen der Opfer ihr Bedauern aus. Diese Tragödie zeige auch, "wie gefährlich es ist, den Kanal zu durchqueren", sagte Johnson, er sei "schockiert und traurig".

Die britische Regierung hatte der französischen Regierung rund 62 Millionen Euro zugesichert, um nicht zuletzt effektivere Grenzkontrollen zu gewährleisten. Bei einem Auftritt in Washington vor kurzem sagte Patel, das "wahre Problem" sei, dass es in der EU offene Grenzen gebe. Der französische Präsident Macron hatte daraufhin in französischen Medien erwidert, es sei problematisch, dass die britische Regierung "zwischen Partnerschaft und Provokation" schwanke. "Wir brauchen eine stärkere Zusammenarbeit", sagte Macron, er wolle diese ab Januar, wenn Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft innehat, weiter vorantreiben. Immerhin sind sich beide Regierungen einig, dass das System der Menschenschmuggler zerschlagen werden müsse.

Es gebe keinen Zweifel, sagte Johnson am Mittwochabend, "die Schmugglerbanden werden nicht aufhören, Menschen in den Kanal zu bringen, so lange sie sehen, dass das möglich ist, und sie werden weiterhin Menschenleben in Gefahr bringen und letztlich als Mörder davonkommen". Auch Frankreichs Innenminister Darmanin machte "kriminelle Schmugglerbanden" für das Unglück verantwortlich, das könne man "nicht oft genug betonen", sagt er.

Darmanin reiste noch am Mittwochabend nach Calais, es hieß, er habe zudem mit Patel telefoniert. Johnson berief in London ein Krisentreffen des Notfallstabs ein, um über weitere Schritte zu beraten.

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