Ägypten nach Mubarak:Mursi ringt um Macht und um Verbündete

Selten hat ein neuer Mann an der Spitze eines Staates so viele zwiespältige Reaktionen ausgelöst wie Mohammed Mursi, Ägyptens künftiger Präsident. Er will den Friedensvertrag mit Israel einhalten, gleichzeitig aber eine Annäherung an Iran. Das Ausland ist skeptisch.

Sonja Zekri

Für die ägyptische Zeitung Al-Gomhuriya waren die Muslimbrüder das Schlimmste, was Ägypten passieren konnte: "Wie die Faschisten und die Nazis interessieren sich auch die Muslimbrüder nicht dafür, ob Ägypten besiegt oder zerstört wird", schrieb das Blatt: Die Bruderschaft wolle die Söhne des Landes einer Gehirnwäsche unterziehen und in sinnlose Kriege hetzen. "Für die Jugend ist sie eine große Gefahr."

Supporters of Presidential candidate Morsi celebrate victory in T

Anhänger des Muslimbruders Mohammed Mursi feiern seinen Wahlsieg auf dem Tahrir-Platz.

(Foto: dpa)

Zehntausende Islamisten saßen damals im Gefängnis, und die Herrschaft Hosni Mubaraks schien unendlich zu sein - auch dank der Tatsache, dass der Westen und viele Ägypter für die Angst vor den zerstörerischen Muslimbrüdern empfänglich waren. Nun, fünf Jahre später, rätselt die Welt, ob Mubarak als verurteilter Häftling im Falle seines Ablebens ein Staatsbegräbnis bekommen kann. Und der Muslimbruder Mohammed Mursi zieht in dessen Paläste ein.

Nicht nur der Westen gratuliert dem Islamisten, auch Mohammed Hussein Tantawi, der Vorsitzende des regierenden Militärrats in Ägypten, sowie Mursis Rivale, der Mubarak-Mann Ahmed Schafik, ja, sogar Ägyptens koptische Kirche.

Präsident "aller Ägypter"

In der Nacht nach einem der größten Triumphe, den der politische Islam in der arabischen Welt je feierte, versprach Mursi, er werde der Präsident "aller Ägypter" sein. Als Test für die Bereitschaft Mursis, die Macht mit jenen politischen Kräften zu teilen, die ihm ins Amt geholfen haben, gilt die Regierungsbildung. Dem Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei, so heißt es, habe er - vergeblich -das Amt des Premierministers angeboten. Wie unabhängig aber ist dieser Präsident? Und was darf er entscheiden?

Noch Sonntagnacht endeten Mursis Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern und sein Vorsitz bei deren Partei Freiheit und Gerechtigkeit. Dass damit seine Verbindung zur ältesten und einflussreichsten islamistischen Bewegung des Nahen Ostens beendet ist, glauben indessen nicht einmal seine Anhänger. "Ich bin ein Sohn der Muslimbrüder, meine intellektuelle und moralische Haltung wurde durch diese Gruppe geformt", hatte Mursi vor ein paar Wochen in einem Interview gesagt.

In der Nacht seines Siegs küsste ihn Mohammed Badie, der Oberste Führer der Muslimbrüder, auf die Stirn. Der "Murschid" - oder einer seiner Funktionäre wie der Unternehmer Chairat al-Schater - werden Ägyptens erstem frei gewählten Präsidenten die nächsten Schritte einflüstern, fürchten viele. Dem Vorsitzenden Badie hat Mursi Gefolgschaft geschworen, eine quasi-religiöse Bindung, die sich nicht so leicht lösen lässt.

Schater wiederum ist der disqualifizierte Wunschkandidat der Bruderschaft und Mursis Mentor. Mursi ist für ihn als Kandidat eingesprungen und soll, so sehen es viele, nun den Erfüllungsgehilfen abgeben. Das "Nahda"-Projekt, das 80-seitige Programm des künftigen Präsidenten, sieht einen Umbau von Staat und Gesellschaft vor, von Bildung, Finanzen und Gesundheitswesen, es verspricht Frauenförderung und Minderheitenschutz.

Selbst gemessen an den konservativen Maßstäben der Muslimbrüder ist Mursi, der "Ingenieur", kein Reformer, das berichten junge und ehemalige Mitglieder. Mursis Ausführungen zur Scharia oder zum Alkoholverbot sind vage genug für schlimmste Befürchtungen.

Mursis Studium in USA hat Ablehnung des Westens nicht gemildert

Dass er in Kalifornien studiert und gelehrt hat, dass zwei seiner fünf Kinder dort geboren wurden und die amerikanische Staatsbürgerschaft haben, hat seine Ablehnung gegenüber dem Westen und dessen Werten so wenig gemildert wie bei anderen islamistischen Reisenden. Sayed al-Qutb zum Beispiel, der Herold des militanten Islam, radikalisierte sich nach dem Besuch kirchlicher Tanzveranstaltungen in Amerika Anfang der fünfziger Jahre.

Zurück in Ägypten schloss er sich den Muslimbrüdern an, die bis heute von Qutbs Radikalismus fasziniert sind. Während Qutb zum bewaffneten Kampf gegen das korrupte grausame gottlose System in Ägypten aufrief und 1966 hingerichtet wurde, steht Mursi für den geschmeidigeren Zweig der Muslimbrüder. Ihm blieben längere Haftstrafen erspart, dafür zog er 2000 ins Parlament ein.

Schätzungen über die Mitgliederzahlen der Muslimbrüder reichen von Hunderttausenden bis zu einigen Millionen. Eine Eintrittswelle, sagen Muslimbrüder, hat es nach der Revolution nicht gegeben. Wie zu Zeiten ihrer Gründung 1928 oszilliert die Muslimbruderschaft noch heute zwischen globalem Anspruch und nationalen Beschränkungen, sozialer Bewegung und politischer Partei, Missionsbewegung und Fürsorgeeinrichtung, zwischen der Sehnsucht nach einem grenzüberschreitenden islamischen Kalifat und kleinteiliger Lokalpolitik.

Präsident aus Zufall

Auch Mursi muss mit diesen Widersprüchen leben. Er ist ein Präsident aus Zufall, der das Opfer der Kandidatur überhaupt nur auf sich nahm, weil er Gottes Urteil am Tag des Jüngsten Gerichts fürchtete.

Mehr noch: In den vergangenen zwei Wochen ist das Amt des Präsidenten zugunsten des Militärrats stark geschwächt worden. Verfassung, Gesetzgebung, Haushalt, Krieg und Frieden kontrollieren nun die Generäle. Selbst wenn die angeblichen Bemerkungen über eine "Ausweitung" der Beziehungen zu Iran - die Mursi am Montagabend dementieren ließ - stimmen würden, wären sie vorerst nicht mehr als Worte.

Selbst manche Mursi-Wähler finden es nicht bedenklich, dass nach 60 Jahren Militärherrschaft die Armee noch immer als Hüterin der nationalen Idee auftritt. Mursi, so hoffen seine Anhänger immerhin, wird das Land beruhigen und die ächzende Wirtschaft wiederbeleben. Die Börse immerhin erholte sich angesichts ausbleibender Unruhen umgehend.

Nach der Nacht des Siegs aber haben die Muslimbrüder Zelte auf dem Tahrir-Platz stehen lassen. Zu den Streitpunkten mit dem Militärrat gehört die Auflösung des Parlaments nach einem Urteil des Verfassungsgerichts. Die Muslimbrüder möchten nur die vom Gericht beanstandeten 30 Prozent der Mandate neu wählen lassen, der Militärrat, so heißt es, bestehe auf der Auflösung. Noch ist nicht einmal klar, wo Mursi den Amtseid ablegen wird - es gibt ja kein Parlament. Dabei dürfte sich diese Frage bis zur Amtseinführung am 30. Juni am leichtesten klären lassen.

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