Ägypten nach der Absetzung Mursis:Die Wut der Muslimbrüder

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Mursis Anhänger Mitte August bei einer Demonstration in Kairo. (Foto: REUTERS)

Hunderte Tote, Massendemonstrationen im ganzen Land, immer neue Gewaltausbrüche: Seit Ägyptens Präsident Mursi Anfang Juli abgesetzt worden ist, stehen sich seine Gegner und Anhänger unversöhnlich gegenüber. Trotz internationaler Kritik setzt die Militärregierung auf Härte gegen die Muslimbrüder, die die Wiedereinsetzung Mursis verlangen. Eine Chronologie der Ereignisse.

Trotz internationaler Kritik setzt die neue ägyptische Führung auf Härte gegen die islamistischen Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi. Ein Überblick über die wichtigsten Entwicklungen seit der Entmachtung Mursis Anfang Juli.

Mittwoch, 3. Juli:

Nach wochenlangen Protesten auf dem Tahrir-Platz setzen Ägyptens Streitkräfte Präsident Mursi ab und stellen ihn unter Hausarrest. Armeechef Abdel Fattah al-Sisi setzt die Verfassung aus und ernennt Verfassungsgerichtspräsident Adli Mansur zum Präsidenten. In Kairos Innenstadt brechen Zehntausende in Jubel aus. Mursis Anhänger greifen hingegen im Norden des Landes Gebäude der Sicherheitskräfte an. Zehn Menschen werden bei Zusammenstößen beider Lager getötet.

Donnerstag, 4. Juli:

Der Chef der Muslimbruderschaft, Mohammed Badie, sowie sein Vize Raschad Bajumi werden festgenommen. Mursis Anhänger rufen zu friedlichen Protesten gegen den "Militärputsch" auf.

Freitag, 5. Juli:

Bei Zusammenstößen von Mursis Gegnern und Anhängern sowie mit Sicherheitskräften werden landesweit Dutzende Menschen getötet und Hunderte verletzt. Übergangspräsident Mansur löst das Oberhaus des Parlaments auf. Auf dem Sinai nahe der Grenze zu Israel greifen Unbekannte Posten von Polizei und Militär an.

Sonntag, 7. Juli

Hunderttausende protestieren in ganz Ägypten für und gegen die Absetzung Mursis. Ein Sprecher von Übergangspräsident Mansur dementiert unterdessen Berichte, nach denen Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei neuer Regierungschef wird. Offenbar gab es erheblichen Widerstand von Seiten der streng religiösen Salafisten. Stattdessen bekommt ElBaradei den Posten des Vizepräsidenten.

Montag, 8. Juli

Vor dem Sitz der revolutionären Garden in Kairo kommt es zu schweren Zusammenstößen, bei denen mehr als 50 Mursi-Anhänger getötet und 480 weitere verletzt werden. Über den Hergang des Geschehens gibt es widersprüchliche Angaben. Die Armee berichtet vom Angriff einer "terroristischen Gruppe" auf das Gebäude. Vertreter der Muslimbrüder sprechen dagegen von einem "Massaker" und rufen zum Aufstand auf. Übergangspräsident Mansur will eine Kommission einsetzen, die die Vorgänge untersuchen soll.

Dienstag, 9. Juli

Übergangspräsident Mansur ernennt den früheren Finanzminister Hasem al-Beblawi zum vorläufigen Regierungschef und verkündet einen ehrgeizigen Zeitplan für den Übergang zur Demokratie: Eine Verfassungsausschuss soll innerhalb von zwei Monaten Änderungen an der von den Muslimbrüdern durchgesetzten Verfassung ausarbeiten. Anschließend soll die Bevölkerung in einem Referendum darüber abstimmen. Für spätestens 2014 sind Parlamentswahlen und die Wahl eines neuen Staatschefs geplant.

Freitag, 12. Juli

Tausende Mursi-Änhänger nutzen die Freitagsgebete für Massenproteste im ganzen Land. Sie wollen so lange demonstrierten, bis der abgesetzte Präsident wieder an die Macht zurückkehrt. Auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel greifen Bewaffnete Sicherheitskräfte an. Der deutsche Außenminister Westerwelle fordert die Freilassung des festgehaltenen Ex-Präsidenten Mursi. Die US-Regierung ruft die Streitkräfte dazu auf, keine weiteren Muslimbrüder zu verhaften.

Dienstag, 16. Juli

Das neue Kabinett legt seinen Amtseid ab. Die Muslimbrüder sind nicht an der Regierung beteiligt und weisen sie als unrechtmäßig zurück. Die Kabinettsmitglieder sind Fachleute und gehören überwiegend dem liberalen Lager an. Auch das Militär nimmt eine starke politische Rolle ein: Armeechef Abdel Fattah al-Sisi, der für Mursis Absetzung verantwortlich ist, wird zum Vertreter von Übergangsministerpräsident Hasem al-Beblawi ernannt. Bei Unruhen in Kairo werden mindestens sieben Menschen getötet und mehr als 200 verletzt.

Freitag, 19. Juli

Der britische Guardian veröffentlicht Recherchen, nach denen das Militär bei der Protestkundgebung vor einer Kaserne Muslimbrüder gezielt angegriffen und offenbar 54 Menschen erschossen hat. Unterdessen zeigen sich die Muslimbrüder bereit, die EU als Vermittler zu akzeptieren.

Samstag, 20. Juli

Übergangspräsident Adli Mansur beauftragt ein Komitee aus Rechtsexperten, die Verfassung des Landes zu überarbeiten. Danach soll es Neuwahlen geben.

Mittwoch, 24. Juli

Armeechef Abdel Fattah al-Sisi fordert die Ägypter dazu auf, ihre Solidarität mit dem Militär zu bekunden und für ihre Ziele auf die Straße zu gehen. Die islamistische Muslimbruderschaft ruft ihr Anhänger zu Gegenprotesten auf und bezeichnet die Äußerungen al-Sisis als "Einladung zum Bürgerkrieg".

Freitag, 26. Juli

Gegen den immer noch inhaftierten Ex-Präsidenten Mursi wird eine zweiwöchige Untersuchungshaft verhängt. Ihm wird vorgeworfen, mit der radikalislamischen Hamas bei Angriffen und Gefängnisausbrüchen kooperiert zu haben.

In der Hafenstadt Alexandria kommt es zwischen gewaltbereiten Mursi-Gegnern und seinen Anhängern zu Ausschreitungen, mindestens fünf Menschen werden getötet. Zuvor hat das ägyptische Militär der Muslimbruderschaft ein Ultimatum gestellt - und ein härteres Vorgehen gegen Extremisten angekündigt.

Samstag, 27. Juli:

Bei einer Kundgebung für Mursi in Kairo werden bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften mehr als 80 Zivilisten getötet.

Sonntag, 28. Juli

Übergangspräsident Mansur erlässt ein Dekret, nach dem es dem Militär nun erlaubt ist, auch Zivilisten festzunehmen. Gleichzeitig droht die Regierung den Mursi-Anhängern: Sollten die gewalttätigen Proteste anhalten, werde es "entschiedene und harte Maßnahmen" geben.

Dienstag, 30. Juli:

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton besucht den an einem unbekannten Ort festgehaltenen Mursi und erklärt, es gehe ihm gut. Es ist das erste offizielle Treffen des Ex-Präsidenten seit seinem Sturz durch das Militär. Deutschland, die USA und Frankreich fordern erneut Mursis Freilassung.

Mittwoch, 31. Juli:

Die Regierung beschließt die Räumung zweier Plätze in Kairo - notfalls mit Gewalt. Dort demonstrieren seit Wochen Mursis Anhänger. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wertet den Kabinettsbeschluss als "Vorlage für eine Katastrophe", die US-Regierung fordert die Führung in Kairo zur Achtung der Versammlungsfreiheit auf. Unterdessen erhebt die Staatsanwaltschaft wegen "Anstachelung zum Mord" Anklage gegen den flüchtigen Islamisten-Chef Mohammed Badie und zwei inhaftierte Führungsmitglieder. Sie sollen für den Tod mehrerer Demonstranten bei Protesten vor dem Hauptquartier der Muslimbrüder Ende Juni verantwortlich sein.

Donnerstag, 1. August

US-Außenminister John Kerry verteidigt die Entmachtung Mursis durch das Militär - und rechtfertigt sie mit dem Unmut der Bevölkerung. Das Militär habe nicht dauerhaft die Macht an sich gerissen, vielmehr werde Ägypten inzwischen von einer zivilen Übergangsregierung geführt.

Sonntag, 4. August

In seinem ersten Interview seit der Absetzung von Präsident Mursi fordert Armeechef Al-Sisi die USA in einem Interview mit der Washington Post auf, Druck auf die Muslimbrüder auszuüben und sich für ein freiwilliges Ende der Dauerproteste einzusetzen. Die Islamsiten rufen ihre Anhänger einen Monat nach dem Sturz von Mursi zu einer "Demonstration der Millionen" auf.

Montag, 5. August

Der stellvertretende US-Außenminister William Burns versucht bei einem Gefängnisbesuch in Kairo, Chairat al-Schater - einen hochrangigen Muslimbruder - für eine Kompromisslösung zu gewinnen. Nach Informationen arabischer Medien nehmen auch die Außenminister von Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie ein EU-Vertreter an dem Gespräch teil. Der Besuch wird als Signal der Militärs gewertet, die Lage nicht erneut eskalieren zu lassen.

Mittwoch, 7. August:

Übergangspräsident Mansur erklärt die ausländischen Vermittlungsbemühungen in der Krise für gescheitert und macht die Muslimbrüder dafür verantwortlich. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und US-Außenminister John Kerry wollen ihre diplomatischen Versuche aber trotzdem nicht beenden.

Donnerstag, 8. August:

Mursis Anhänger nutzen die Festlichkeiten zum Ende des Ramadan für große Protestkundgebungen. Trotz eines Demonstrationsverbotes halten die Islamisten zwei Plätze in Kairo besetzt. Am Eingang zu ihrem zentralen Protestlager vor der Rabaa-al-Adawija-Moschee errichten die Muslimbrüder eine Betonwand, um das Camp vor der Räumung zu bewahren.

Sonntag, 11. August

Das Innenministerium ordnet die endgültige Räumung der Protestlager der Muslimbrüder in Kairo an. Zunächst solle der Zugang zu den Zeltcamps blockiert und den Demonstranten das Wasser abgedreht werden. Man wolle die Dauerproteste aber ohne Gewalt beenden. Die Islamisten verstärken als Vorbereitung auf eine Polizeiaktion ihre Barrikaden rund um ihre Zeltcamps bei der Rabaa-al-Adawija-Moschee und auf dem Al-Nahda-Platz.

Montag, 12. August:

Mursis Untersuchungshaft wird um weitere 15 Tage verlängert. Daraufhin kommt es erneut zu Protesten und Zusammenstößen zwischen beiden Lagern.

Mittwoch, 14. August:

Die Sicherheitskräfte beginnen mit der gewaltsamen Räumung der Protestcamps auf den Plätzen Rabaa-al-Adawija und al-Nahda. Sie setzen dabei Tränengas-Granaten und scharfe Munition ein. Hunderte Menschen werden getötet, die Muslimbrüder sprechen sogar von weit mehr als 2000 Todesopfern. Die Übergangsregierung verhängt einen einmonatigen Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre für weite Teile des Landes. Der von Mansur eingesetzte Vize-Präsident Mohamed ElBaradei tritt zurück.

Donnerstag, 15. August:

Ägyptens Sicherheitskräfte erhalten die Erlaubnis, im Fall von Gewaltanwendung scharf auf Bürger zu schießen. Ministerpräsident Hasem el-Beblawi verteidigt in einer Fernsehansprache das harte Vorgehen und die Auflösung von Protestlagern der Muslimbrüder. "Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Dinge einen Punkt erreicht haben, den kein sich selbst achtender Staat akzeptieren darf", sagte el-Beblawi.

US-Präsident Barack Obama sagt alle geplanten Militärmanöver mit Ägypten ab und fordert alle in Ägypten lebenden US-Bürger zum Verlassen des Landes auf. Der UN-Sicherheitsrat berät in einer Dringlichkeitssitzung über die Krise.

Freitag, 16. August:

Landesweit werden am "Freitag der Wut" bei Straßenschlachten allein in Kairo 95 Menschen getötet, darunter auch ein Sohn des mittlerweile flüchtigen Muslimbruder-Chefs Badie. Mehr als 1300 Menschen werden verletzt.

Die internationale Kritik an der Militärführung wird immer schärfer. Nach Ansicht der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton trägt die Übergangsregierung die Hauptschuld für die Gewaltausbrüche. Kanzlerin Angela Merkel kündigt nach einem Telefonat mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande an, die Beziehungen zu Ägypten auf nationaler und EU-Ebene grundsätzlich auf den Prüfstand stellen zu wollen. Deutsche Reisekonzerne streichen nach den Gewaltausbrüchen vorerst alle Reisen nach Ägypten.

Samstag, 17. August:

Die Polizei räumt die Al-Fateh-Moschee am Ramses-Platz in Kairo, wo sich Hunderte Islamisten verschanzt haben. Kurz zuvor sind die Sicherheitskräfte offenbar vom Minarett der Moschee aus beschossen worden und haben das Feuer erwidert. Einige Muslimbrüder werden beim Verlassen des Gotteshauses von wütenden Bürgern angegriffen. Auch in anderen Teilen Kairos greifen Zivilisten mutmaßliche Islamisten an - oft nur, weil sie einen Bart tragen. Die Behörden sprechen von mindestens 173 Todesopfern seit Freitag.

Unterdessen berichtet die Washington Post, dass Ägyptens Militärchef al-Sisi wenige Tage zuvor angeblich ein Friedensabkommen zwischen den verfeindeten Parteien scheitern ließ. Die von den USA und ihren Partnern aus Europa und den Golfstaaten vermittelte Lösung hätte das Blutvergießen mit Hunderten Toten möglicherweise vermeiden können, hießt es in dem Bericht.

Sonntag, 18. August:

Militärchef al-Sisi ruft die Muslimbrüder zur Umkehr auf und warnt, die Armee werde "keine Gewalt tolerieren". Bei einem Fluchtversuch von festgenommenen Muslimbrüdern in Kairo sterben unter nicht geklärten Umständen bis zu 38 Menschen. Die Muslimbruderschaft fordert eine internationale Untersuchung des "abscheulichen Verbrechens". Sie sagt zwei für diesen Tag geplante Demonstrationen kurzfristig ab. Grund sei die Sorge um die Sicherheit der Demonstranten, auf den Dächern befänden entlang der Route befänden sich Scharfschützen des Militärs.

Montag, 19. August

Auf der Sinai-Halbsinsel sterben mindestens 24 Sicherheitskräfte, als Unbekannte sie in einen Hinterhalt locken. Die Botschafter aller EU-Mitgliedsstaaten beraten in Brüssel über eine gemeinsame Reaktion auf die Gewalt und bereiten auch eine Sondersitzung der EU-Außenminister vor, die noch in dieser Woche stattfinden soll. Mehrere EU-Staaten, darunter auch Deutschland, haben bereits Finanzhilfen für staatliche Entwicklungsprojekte vorerst gestoppt. Italien hat außerdem angeregt, keinerlei Waffen mehr aus der EU nach Ägypten zu liefern.

Unterdessen gibt es Berichte, nach denen Ägyptens früherer Präsident Mubarak das Gefängis bald verlassen darf. Nach Angaben seines Anwalts wurde eine Korruptionsklage gegen den ehemaligen Autokraten fallengelassen.

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