Ägypten im Umbruch:Islamisten demonstrieren mit "Marsch der Millionen"

Supporters of ousted President Mohamed Mursi perform the weekly Friday prayers at Rabaa Adawiya square in Cairo

Proteste nach dem Freitagsgebet: Vor der Moschee Rabaa al-Adawija in Kairo haben sich Tausende Mursi-Anhänger versammelt.

(Foto: REUTERS)

Droht am Rande der Freitagsgebete neue Gewalt in Ägypten? Tausende Mursi-Änhänger haben sich schon vor einer Moschee in Kairo versammelt. Sie wollen so lange demonstrierten, bis der abgesetzte Präsident wieder an die Macht zurückkehrt. Aber auch die Gegner Mursis formieren sich.

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Schon seit zehn Tagen kommt Ägypten nicht zur Ruhe. So lange ist es her, dass das Militär geputscht und Präsident Mohammed Mursi aus dem Amt gedrängt hat. Immer wieder kommt es seitdem zu Zusammenstößen zwischen Mursi-Gegnern und seinen Anhängern. Etwa 100 Menschen wurden bereits getötet. An diesem Freitag droht - am Rande der traditionellen Freitagsgebete - möglicherweise neue Gewalt.

Das Wichtigste zur Lage in Ägypten:

Islamisten unternehmen "Marsch der Millionen" auf Kairo: Die Anhänger des gestürzten islamistischen Präsidenten Mursi nutzen die Freitagsgebete für Massenproteste im ganzen Land. Sie wollen so lange protestieren, bis Mursi wieder in sein Amt eingesetzt wird. Beobachter fürchten, dass es neue Zwischenfälle geben könnte. Allein in Kairo laufen derzeit mehrere Großkundgebungen. Die Mursi-Anhänger haben sich vor der Rabaa al-Adawija-Moscheee im Kairoer Vorort Nasr City versammelt. Tausende haben bereits seit Stunden dort campiert. Auch Gegner des Ex-Staatsoberhauptes planen zwei Demonstrationen, eine auf dem zentralen Tahrir-Platz, die andere vor dem Präsidentenpalast. Die Armee hat an den Zufahrtstraßen zur Hauptstadt Kontrollpunkte eingerichtet. Am vergangenen Wochenende wurden bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Islamisten Dutzende Menschen getötet. Allein bei einer Schießerei vor einer Kaserne in Kairo starben mehr als 40 Menschen.

Neuer Zwischenfall am Sinai: Auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel griffen Bewaffnete erneut Sicherheitskräfte an. Wie aus Polizeikreisen verlautete, feuerten die Täter in der Stadt Al-Arisch eine Panzerabwehrrakete auf ein gepanzertes Fahrzeug. Ein Oberstleutnant soll ums Leben gekommen sein, 25 weitere Polizisten seien verletzt worden. Auf der Sinai-Halbinsel gibt es seit den arabischen Aufständen 2011 immer wieder bewaffnete Übergriffe auf Sicherheitskräfte.

Die Ereignisse der vergangenen zehn Tage: Nach wochenlangen Protesten hat die Armee Mursi am Mittwoch vergangener Woche seines Amtes enthoben. Die Begründung: Der Präsident sei unfähig zu Kompromissen und gefährde die Stabilität des Landes. Der aus der Muslimbruderschaft hervorgegangene Mursi war das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt in der Geschichte des Landes - auch deshalb sprechen seine Anhänger von einem Putsch. Seit Mursis Sturz regiert der Verfassungsrichter Adli Mansur als Übergangspräsident. Er soll das Land innerhalb von sechs Monaten zu Neuwahlen führen. Am Dienstag hat Mansur den Ökonomen Hazem al-Beblawi zum Chef einer provisorischen Regierung ernannt. Al-Beblawi arbeitete bereits 2011 einige Monate als Finanzminister und hat nach dem Sturz von Langzeitherrscher Hosni Mubarak die Sozialdemokratische Partei Ägyptens mitgegründet. Der Friedensnobelpreisträger und liberale Politiker Mohammed ElBaradei wurde zum Vizepräsidenten an der Seite von Mansur ernannt. ElBaradei war zuerst als Regierungschef vorgesehen, scheiterte aber am Widerstand der streng religiösen Nur-Partei.

Die Pläne der neuen Machthaber: Bis Anfang kommender Woche will al-Beblawi eine Übergangsregierung zusammengestellt haben, an der möglichst auch die Muslimbrüder beteiligt werden sollen. Interimspräsident Mansur hat sich in seiner sogenannten Verfassungserklärung die Vollmacht gegeben, den Notstand für einen Zeitraum von höchstens drei Monaten zu verhängen und bis zur Wahl des neuen Parlaments Gesetze zu erlassen. Die umstrittene, islamistisch geprägte Verfassung soll ein aus 15 Mitgliedern - hauptsächlich Richtern - bestehender Ausschuss überarbeiten. Er wird seine Vorschläge einer großen Versammlung vorlegen, die alle gesellschaftlichen Schichten repräsentieren soll. Über den neuen Text soll schließlich in einem Referendum abgestimmt werden. Danach soll ein neues Parlament gewählt werden, das dann rasch die Präsidentschaftswahl ansetzt.

Wo ist Mursi? Es ist immer noch unklar, wo genau sich der abgesetzte Präsident derzeit aufhält. Ein Sprecher des ägyptischen Außenministeriums sagte, Mursi befinde sich "an einem sicheren Ort" und würde "in würdiger Weise" behandelt. Zugleich sei es für seine eigene Sicherheit und die Sicherheit des Landes besser, ihn festzuhalten.

Westerwelle fordert Freiheit für Mursi: Jede Form der politischen Verfolgung des Ex-Präsidenten sei für die Zukunft Ägyptens außerordentlich schädlich, sagte Martin Schäfer, der Sprecher im Auswärtigen Amt. "Wir fordern deshalb auch ein Ende der aufenthaltsbeschränkenden Maßnahmen für Herrn Mursi." Eine neutrale, vertrauenswürdige Organisation wie etwa das Internationale Komitee vom Roten Kreuz müsse Zugang zu Mursi gewährt werden. Gleichzeitig appelliert die Bundesregierung an alle politischen Kräfte, besonders aber an die Führung der Muslimbrüder, von Gewalt abzusehen. "Eine Rückkehr zur Demokratie in Ägypten kann nur gelingen, wenn alle politischen Kräfte den demokratischen Transformationsprozess mitgestalten können", sagte Schäfer. Nach Deutschland hat auch die US-Regierung die ägyptische Armee zur Freilassung des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi aufgerufen. Die US-Außenamtssprecherin Jennifer Psaki sagte, sie fordere "heute öffentlich" die Freilassung des islamistischen Politikers.

Auch die USA fordern Ende der Festnahmen von Muslimbrüdern: Seit Mursis Sturz hat die neue Führung in Kairo zahlreiche Islamisten festnehmen lassen. So wurde zum Beispiel gegen Mohammed Badie, den Führer der Muslimbrüder, Haftbefehl erlassen - wegen des Aufrufs zur Gewalt. Die US-Regierung fordert, solche willkürlichen Festnahmen zu unterlassen. Diese seien nicht im Sinne des vom Militär und der Übergangsregierung ausgegebenen "Ziels der nationalen Versöhnung". "Wenn die Festnahmen und politischen Inhaftierungen weiter gehen, wird es für Ägypten schwer, aus dieser Krise wieder herauszukommen", sagte eine Sprecherin des US-Außenministeriums. Die US-Regierung hat es bisher vermieden, zu Mursis Absetzung klar Stellung zu beziehen und zu sagen, ob sie das Handeln der Armee als Putsch wertet. Aussagen darüber hätten eventuell Auswirkungen auf die Militärhilfe für Ägypten. Aus Washington hieß es, die 2010 vereinbarte Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen werde trotz der aktuellen Krise fortgesetzt. Die nächsten vier Maschinen sollten im August geliefert werden. Allerdings habe US-Präsident Barack Obama eine Überprüfung der Hilfen an die ägyptische Regierung angeordnet.

Die wichtigsten Texte zu Ägypten auf SZ.de: Warum die Muslimbrüder ihre Zukunft verspielt haben und nicht dazu in der Lage sind, einen Staat im 21. Jahrhundert zu führen, kommentiert SZ-Korrespondentin Sonja Zekri. Richtungsweisend für ein modernes Ägypten sind demnach weder die Salafisten noch die Liberalen noch die Armee. Die große Chance für die Zukunft des Landes verkörpern junge Aktivisten, meint SZ-Korrespondent Tomas Avenarius. SZ-Außenpolitikchef Stefan Kornelius schreibt in einem Essay über die Schwierigkeit des Demokratieexports in Regionen, die mit dieser westlich geprägten Staatsform wenig Erfahrungen haben, und Lena Jakat hat mit der Ägypterin Danya Nadar ein Interview geführt. Nadar ist in Kanada aufgewachsen und kämpft jetzt in Kairo gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen.

Linktipp: Ein Grund für Mursis Sturz war auch die schlechte Wirtschaftslage und die Versorgungskrise in Ägypten. Doch seit zehn Tagen funktioniert plötzlich die Strom- und Gasversorgung wieder, die Warteschlangen an den Tankstellen sind verschwunden und Polizisten sorgen auf die Straßen Kairos für Ordnung. Der Korrespondent der New York Times analysiert, inwiefern reiche Geschäftsleute und die alte Elite um den 2011 gestürzten Ex-Präsidenten Hosni Mubarak hier die treibenden Kräfte im Hintergrund gewesen sein könnten.

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