Ägypten im Ausnahmezustand:Im Würgegriff der Gewalt

Members of the Muslim Brotherhood and supporters of ousted Egyptian President Mohamed Mursi throw stones at riot police and army personnel during clashes in Cairo

Erst gehen die Tränengas-Geschosse dicht wie Hagel auf Kairo nieder, dann schieben Planierraupen die Barrikaden der Mursi-Anhänger weg. Kurz darauf brennen die Zelte der Islamisten, später werden sie verkohlte Leichen darunter hervorziehen.

(Foto: REUTERS)

Schluchzende Frauen, zornige Männer, erregtes Geschrei: Mit aller Gewalt haben die Sicherheitskräfte die Protestcamps in Kairo geräumt. Ägypten zählt nun seine Toten. Der Innenminister meint, man sei "möglichst menschlich vorgegangen" - dieser Hohn wird den Protest der Islamisten weiter anstacheln.

Eine Reportage von Tomas Avenarius, Kairo

Die Gasse ist eng, die Männer straucheln, kommen kaum voran. Immer vier oder fünf von ihnen tragen einen der Särge, sie schaukeln hoch über den Köpfen der Menge. Holzkästen ohne jeden Schmuck, so schäbig wie die Gasse im Armenviertel Seida Seinab. Schluchzende Frauen, zornige Männer, Verzweiflung, erregtes Geschrei. Am Ende der schmalen Straße bugsieren die Träger die Toten durch das niedrige Stahltor, es ist der Hintereingang der zentralen Leichenhalle von Kairo. Die Männer kommen nach wenigen Minuten zurück, mit dem leeren Sarg, für den nächsten Toten.

"Sie bringen die Leichen aus den Krankenhäusern", sagt einer, der zwischen den heranfahrenden Leichenwagen steht. "Dort wurde der Totenschein ausgestellt. Es steht drauf, dass sie bei privaten Schlägereien umgekommen sind." Der Mann, der seinen Namen nicht nennen will, hat schon 150 Särge gezählt und er sagt, jeder hier wisse doch, woran die meisten gestorben seien: "Schusswunden. Am Hinterkopf oder in der Brust. Einer meiner Freunde zählt dazu."

Ägypten zählt seine Toten. Nicht nur vor der Senhum-Leichenhalle. In einer Moschee sollen noch mindestens 300 liegen, auf Eisblöcken. Das jedenfalls sagen die Islamisten und Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi. Vor der Polizei-Moschee nahe der Altstadt fahren zum selben Zeitpunkt schwarze Limousinen vor, in einer sitzt der Innenminister. Mindestens 43 seiner Beamten sind tot.

Brennende Gebäude, neue Proteste

Nachdem Polizei und Armee die zwei Kairoer Sit-ins von Mursis Anhänger am Mittwoch gestürmt haben, werden die Zahlen langsam konkreter, sie steigen kontinuierlich. Die Regierung spricht schon von 525 Toten, aber es dürften mehr werden: Die Senhum-Leichenhalle ist voll, im Stadtteil Gizeh brennt mittags das Gouverneursgebäude, in allen Landesteilen rufen die Islamisten zu neuen Protesten auf. Ägypten, vom Militär angeblich selbstlos von den Islamisten erlöst, versinkt in Gewalt.

Am Vortag, im Oberklasse-Stadtteil Mohandesin, die Mustafa-Mahmud-Moschee. Dort haben sich versprengte Islamisten nach dem blutigen Sturm ihrer Protestlager verschanzt. Wenige Stunden zuvor hatte die Armee in der Querstraße scharf geschossen auf die paar Hundert Mursi-Anhänger, die an der Moschee Barrikaden bauen, ein neues Protestlager beginnen wollten. Drinnen im Gebetshaus sagt Doktor Mohamed, ein Arzt: "Ich selbst habe hier 22 Tote gesehen. Es sollen aber mehr als 30 sein. Ich stand in einem See von Blut."

Die Luft ist schal im Hinterhof; sie riecht nach Desinfektionsmittel, Schweiß und Hoffnungslosigkeit. Männer liegen ermüdet auf dem Boden, in blutbefleckten Hemden und Hosen, einige lesen den Koran. "Sie werden kommen, uns auch von hier vertreiben", sagt Ahmed, der IT-Techniker und Not-Sanitäter. Er sagt, wie alle, der Verlauf des Lebens und der Zeitpunkt des eigenen Todes seien "von Gott vorgegeben". Aber er sagt auch: "Ich habe Angst."

Ahmed ist nicht allein. Sein Vater, seine Mutter, die Schwestern sind da. Ahmeds Vater, ein Arzt, der als UN-Berater arbeitet, weiß nicht, wie es weitergehen wird: Was ist der Plan? "Falsche Frage! Was sind unsere Optionen?" Dann zählt Said Hassan Möglichkeiten auf. "Eins: Wir gehen alle nach Hause, werden in unseren Betten verhaftet und sterben." Möglichkeit zwei: "Wir greifen zu den Waffen und attackieren den Staat, öffentliche Einrichtungen in ganz Ägypten. Das habe ich nie gemacht und werde ich nie tun." Und die dritte Möglichkeit? "Wir glauben, dass es Menschen gibt, die ein gutes Herz haben", beginnt er, "die die Freiheit und die Menschenrechte unterstützen . . ." Aber was ist der Plan? "Es gibt keinen. Wir haben keine Führer."

Pardon wird nicht gegeben

Am nächsten Morgen ist die Moschee verlassen. Die Mursi-Anhänger sind geflüchtet. Sie hatten keinen Plan. Andere Islamisten aber schon. Kirdasa, ein kleines Dorf am Stadtrand von Kairos Schwesterstadt Gizeh, keine 15 Kilometer vom Zentrum, nahe der Pyramiden. Militante sollen die Polizeistation mit einer Panzerfaust angegriffen, elf Beamte abgeschlachtet haben. Die Videobilder sind schrecklich: Die Leichen schwimmen in Blut, ausgezogen bis auf die Unterwäsche.

Später sollen einer der Toten, der Kommandeur, an der Stoßstange eines Autos durch die Straßen geschleift worden sein. "Zündet sie doch an", schreit einer, der die Leichen filmt. Schon am Nachmittag hatten Mursis Anhänger einen Polizeijeep von einer Brücke gestürzt, mitten in der Stadt. Danach zerrten sie einen der leblosen Polizisten an den Beinen aus dem Wrack. Wenn er da noch gelebt hat, dürften sie ihn im Moment danach totgeschlagen haben. Am Donnerstagmittag brennt das Gouverneursgebäude in Gizeh, formieren sich in Alexandria neue Protestmärsche.

Pardon wird nicht gegeben.

Dass der Innenminister nach dem Sturm der beiden Sit-ins von einem quasi chirurgisch scharfen und schonenden Schnitt gesprochen hat, darf nach all den Toten auch von Befürwortern der härtesten Linie getrost als Propaganda begriffen werden: Man sei bei der Operation "möglichst menschlich vorgegangen".

Die Bilder sprechen eine andere Sprache. Erst gehen am Morgen die Tränengas-Geschosse dicht wie Hagel auf Rabaa al-Adawija nieder, dann walzen Planierraupen die Barrikaden nieder. Kurz darauf brennen die Zelte der Islamisten, später werden sie verkohlte Leichen darunter hervorziehen. Zwischen den Trümmern werfen Mursi-Anhänger Steine und Molotowcocktails, einzelne feuern aus Sturmgewehren auf Soldaten und Polizisten.

"Wir sind ja alle Terroristen"

Der Platz an der Rabaa al-Adawija-Moschee ist unter Feuer, ein über der Stadt schwebender Rauchpilz breitet sich aus, da strömt in den Seitenstraßen Verstärkung zusammen, herbeigeeilt aus allen Teilen Kairos. Mursi-Anhänger rennen an gegen Polizei und Armee, schleudern glühende Tränengas-Granaten zurück, werfen Steine auf Schützenpanzer und Polizisten. Über all dem hallt Gewehrfeuer, angeblich Platzpatronen, mit denen die Soldaten ihre Gegner abschrecken wollen.

Mursis Gefolgsleute verteilen da schon Pappen, auf denen die Menschen Namen und Telefonnummern der Angehörigen schreiben sollen, für den Fall ihres Todes. "Hundemarken" wie sie Soldaten am Hals tragen im Krieg, aber aus Pappschnipseln. Ein Junge zieht einen Stein aus der Tasche, hält ihn einem Islamisten hin, der dazwischen auf Krücken zum Platz humpelt: "Hier, wirf ihn. Wir sind ja alle Terroristen."

Allein mit der unterschiedlichen Lesart der Gegner lässt sich die Unklarheit darüber nicht erklären, wer zuerst geschossen, wer Scharfschützen auf Hochhäusern postiert hat. Fakt ist, dass 43 Polizisten tot sind und fast 500 Islamisten. Fakt ist, dass Reporter im Lager Dutzende Leichen gezählt haben, mit Schüssen in Kopf oder Brust. Und Fakt ist, dass drei Journalisten im Protest-Camp starben, mit ihren Kameras waren sie Augenzeugen beim angeblich chirurgischen Schnitt der Sicherheitskräfte. Auch sie wurden erschossen.

Verpasste Chance

Der erste, der nach diesem Blutbad das Handtuch wirft, ist Ägyptens Vize-Präsident Mohamed ElBaradei. "Ich übernehme keine Verantwortung für Entscheidungen, denen ich nie zugestimmt, vor denen ich ausdrücklich gewarnt habe", schreibt der Friedensnobelpreisträger in seinem Rücktrittsgesuch. "Ich will mich vor Gott nicht verantworten müssen für nur einen Tropfen Bluts." Im TV ist er weniger wolkig. Er habe Armeechef Abdel-Fattah al-Sisi gewarnt: "Gewalt erzeugt Gegengewalt. Denkt an meine Worte - die Einzigen, die profitieren, sind die Extremisten."

Aber ElBaradei ist raus, das liberale Feigenblatt der neuen Regierung abgefallen. Der frühere UN-Diplomat hatte nie eine Chance, hat immer verloren gewirkt in Ägypten. Der Anzugträger mit der runden Brille wirkte fehl am Platz, vor allem bei seinen seltenen Auftritten vor dem Volk. Die Sprache gestelzt, die Körperhaltung gebeugt, das Gesicht zerfurcht von Zweifelsfalten wie Ackerland. Kein Hitzkopf und Aufwiegler, sondern ein ewiger Bedenkenträger mit guten Argumenten: Für so einen ist kein Platz im neuen Ägypten.

ElBaradei war so ziemlich der Einzige, der für Mäßigung und Versöhnung, Rechtsstaat und Demokratie stand in der Regierung, die das Militär nach dem Umsturz vom 3. Juli. eingesetzt hat. Aber die Zeiten sind nicht die der Mäßigung. Einige im Kabinett mögen die Gewalt im Herzen missbilligen: Sagen tun sie es nicht. Gefragt sind "Patrioten", die ihre andersdenkenden Landsleute pauschal als Terroristen diffamieren, nicht differenzieren zwischen Aufwieglern und Gewalttätern und denen, die ihre Verwandten, Nachbarn und Kollegen sind und an eine politisch-religiöse Idee glauben, die man nur politisch bekämpfen kann.

Besonnenheit hat keine Chance

Leute aus ElBaradeis liberaler Verfassungspartei werfen ihm Schmutz nach, fordern Parteiausschluss. Und das Jugendbündnis Tamarod (Rebellion), das dem Militärputsch mit seiner Unterschriftensammlung den Weg geebnet hatte, geriert sich als Lautsprecher der Hardliner: "Sie haben sich entschieden, ihr strahlendes internationales Image bei ihren weltweiten Freunden zu polieren. Und das auf Kosten ihres Ansehens beim ägyptischen Volk und ihrer Aufgabe als Vize-Präsident." Es gibt nur noch Ägypter - und Vaterlandverräter und Terroristen.

Die Besonneneren sind chancenlos. Im anti-septischen Suburbia Kairos saß Abdel Menaim Abul-Futuh, Chef der moderat islamistischen Partei "Starkes Ägypten" kürzlich in seinem Büro, geißelte Mursi und General Sisi. Er hatte den Putsch gefürchtet, die Muslimbrüder zu Neuwahlen gedrängt, ihre Gegner zum zivilen Ungehorsam. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein. Jeder tote Mursi-Anhänger stärke die Muslimbrüder, prophezeite er, Tage vor dem Blutbad: "Der alte Sicherheitsapparat ist zurück, will Rache. Sie holen pensionierte Polizisten und Geheimdienstler zurück, schreiben gefälschte Berichte."

Der Ex-Muslimbruder Abul-Futuh hatte als Unabhängiger bei der Präsidentschaftswahl kandidiert. Er galt als anschlussfähig für Religiöse und Säkulare. Aber dann holte ein anderer der liberalen Kandidaten auf. Eines der Alpha-Tiere hätte die Bewerbung zurückziehen müssen. Die Einigung kam nicht zustande, Mursi gewann die Wahl. Es war eine der verpassten Chancen.

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