Deutschland will mehr verflüssigtes Gas in Ägypten kaufen und zusammen mit dem nordafrikanischen Land am Aufbau einer Wasserstoffproduktion arbeiten. Das während des Besuchs von Präsident Abdel Fattah al-Sisi in Berlin besprochene Projekt passe gut zu den "sehr langen industriellen Beziehungen, die beide Länder miteinander haben", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz am Montag in Berlin. Die Energiepartnerschaft mit Ägypten sei nötig, da "man sich nicht auf einen einzigen Partner verlassen darf, sondern viele gute Partner haben muss", sagte Scholz weiter.
Präsident Al-Sisi zeigt sich hocherfreut, dass nach dem kürzlich abgeschlossenen Vertrag mit Siemens über den Bau eines Hochgeschwindigkeitsnetzes nun ein weiteres deutsch-ägyptisches Hochtechnologieabkommen praktisch sofort umgesetzt wird. Der Herbst wird nicht nur für Deutschland schwierig. Die stark gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreise mehren die Angst vor sozialen Unruhen in dem 100-Millionen-Einwohner-Land Ägypten.
Sollten die russischen Gaslieferungen durch die Nord-Stream-1-Pipeline ausbleiben, benötigt Deutschland weit mehr als die nun vereinbarte Menge an Flüssiggas aus dem östlichen Mittelmeer. Man werde jeden möglichen Kubikmeter liefern, sagte Al-Sisi. Die Menschenrechtslage in Ägypten wurde nach Jahren der Kritik diesmal in Berlin nur kurz angesprochen.
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Im Vergleich zu anderen Gasproduzenten ist Ägypten für die nach Ersatz für russische Lieferungen gierenden Europäer ein Glücksfall. Das für den Transport in Tankschiffen auf minus 161 Grad heruntergekühlte LNG (Liquefied Natural Gas) ist dank des riesigen Gasfelds Leviathan vor der israelischen Küste und bereits bestehender Verflüssigungsanlagen an der ägyptischen Küste sofort verfügbar.
Empfindlicher Markt
Anders als Katar verkauft Kairo den Großteil seiner LNG-Produktion zudem auf den Spotmärkten und meidet langfristige Verträge. Der weltweit größte LNG-Produzent ist durch langfristige Verträge an asiatische Abnehmer gebunden. Italien versucht derzeit, die Gaslieferungen aus Algerien zu erhöhen, doch die Pipelines lassen nur noch eine Steigerung der Lieferung um zehn Prozent zu. Der Streit zwischen Marokko und Algerien um das von Rabat beanspruchte Gebiet der Westsahara macht algerische Lieferungen zu einem Risiko. Spanien kann nicht auf mehr Gas aus dem größten Flächenland Afrikas zählen, weil es wegen der Flüchtlingskrise und seiner nordafrikanischen Enklaven mit Marokko verbündet ist.
Die Lieferprobleme und Preissteigerungen von LNG nach einem Brand in einer texanischen LNG-Verflüssigungsanlage im Juni zeigen, wie empfindlich der Markt auf Störungen reagiert. Das deutsch-ägyptische Gas- und Wasserstoffprojekt kommt zudem in einem politisch sensiblen Umfeld zustande. Die beiden ägyptischen Verflüssigungsanlagen in Damietta und Idku waren ursprünglich gebaut worden, um israelisches Pipeline-Gas zu verflüssigen. Seit 2020 exportiert Israel, das über keine eigene LNG-Infrastruktur verfügt, seine für den Weltmarkt gedachten Gasvorkommen an Ägypten, das von dem ehemaligen Erzfeind dafür eine Kommission kassiert. Vor ihren Küsten entdeckte unterseeische Vorräte wollen zukünftig auch Griechenland und Zypern per Pipeline an die ägyptische Nordküste bringen und verflüssigen.
Die 2021 exportierten 6,6 Millionen Tonnen Gas könnten in diesem Jahr bei voller Auslastung von Pipelines und Verflüssigungsanlagen auf die doppelte Menge gesteigert werden. Damit könnte das einzige über LNG-Technik verfügende nordafrikanische Land zehn Prozent der russischen Gaslieferungen für Europa ersetzen.
"Das LNG-Projekt kommt für Ägypten zu einem günstigen Zeitpunkt", sagt Sherif Rohayem von der Gesellschaft für Außenwirtschaft in Kairo. "Und der Besuch in Berlin von Präsident Sisi wird bei den laufenden Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds helfen."
Neuer Pragmatismus in Nahost
Vor dem Ukraine-Krieg hatte Ägypten wegen der niedrigen Öl-und Gaspreise und der Misswirtschaft als Kandidat für einen Staatsbankrott gegolten. "Die europäische Energiepartnerschaft und das Vertrauen Deutschlands wird wieder Investoren anziehen", glaubt der Analyst Rohayem.
Wie pragmatisch die politischen Verhältnisse in der von einer schweren Wirtschaftskrise gebeutelten Region sind, wird sich bald wieder während der Feierlichkeiten am 6. Oktober zeigen. Dann wird in einer Parade der ägyptischen Armee des Beginns des Jom-Kippur-Krieges gegen Israel gedacht, es werden Hilfspakete an palästinensische Flüchtlinge geschickt. Versöhnung mit dem Nachbarn ist in Ägypten immer noch ein heikles Thema. Doch Kritik an der ägyptisch-israelischen Energiekooperation ist tabu.
Das gilt auch für das Schicksal Tausender politischer Häftlinge in ägyptischen Gefängnissen. Nur wenige Journalisten trauen sich, offen über die anhaltende Verhaftungswelle zu sprechen. Anlässlich des Petersberger Klimadialogs machten 21 ägyptische und internationale Menschenrechtsorganisationen auf die vielen seit Jahren in Untersuchungshaft sitzenden Aktivisten aufmerksam. Doch der aktuelle politische Pragmatismus des Nahen Ostens hat nun auch Berlin erreicht.