Adolf Hitler und die Nazi-Zeit:Der Tag, an dem der Führer nicht kam

Hitler als Redner im Sportpalast 1936

Hitler bei einer Rede im Berliner Sportpalast 1936.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Eric Vuillard beschreibt in einem Buch auf Französisch anschaulich die Hilfe der Industrie für Adolf Hitler, eine Panne beim "Anschluss" Österreichs und die mörderische Jagd auf jüdische Wiener.

Rezension von Wolfgang Freund

Der Autor ist ein auf zeitgeschichtliche Themen spezialisierter Schriftsteller und Filmemacher. Vielleicht geht es deshalb in seinem Buch so zu wie bei der Vorbesprechung zur Ballnacht von Roman Polanskis "Tanz der Vampire".

Nur sind die 24 Sitzungsmitglieder hier aus Fleisch und Blut und tragen historisch verbriefte Namen. Zwar ist das Buch von Erich Vuillard französisch geschrieben und in Frankreich verlegt, es sei dennoch in Deutschland vorgestellt.

Es ist der 20. Februar 1933. Den Kopf dieser Noblesse-Riege aus Eisen und Stahl bildet Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, gefolgt von Fritz von Opel, Albert Vögler, Günther Quandt, Friedrich Flick und wie sie alle hießen. Kurz das gesamte großindustrielle "Nirwana" (Vuillard) der gerade verstorbenen "Weimarer Republik" in ihren grauen maßgeschneiderten Anzügen.

Adolf Hitler ist bereits Reichskanzler, muss jedoch eine letzte Wahl gewinnen, um es bleiben zu können. Dazu benötigt er das Geld der Großen. Er streicht es ein; denn die Sitzung endet mit dem Aufruf Hjalmar Schachts, des kommenden Reichsbankdirektors und Wirtschaftsministers von Hitlers Gnaden: "Und jetzt, meine Herren, zur Kasse bitte!" Das Eis bricht, die Scheckbücher werden gezückt.

Von diesem Tag an haben Hitler und seine Mannen das Geld der deutschen Großindustrie in ihrem Säckel. "Krupp und Kunst" wird zur Farce, das "Tausendjährige Reich" springt aus den Startlöchern.

Hauptbestandteil des Berichts, wie der Autor sein Buch bescheiden nennt, ist die Vorbereitung und Durchführung des "Anschlusses", gipfelnd in dem Tag (11./12. März 1938), als Österreich wieder "deutsch" werden sollte.

Abertausende von Österreicher warteten - für einen Tag vergebens

Österreichs Kanzler Kurt Schuschnigg, auch nicht gerade ein Muster demokratischer Gepflogenheiten (der Autor nennt ihn "nationalkatholisch"), immerhin in kritischer Noch-Distanz zum "Führer" geblieben, war inzwischen in Berchtesgaden auf Linie gebracht worden, doch auf Hitlers Druck rasch durch den Wiener Obernazi Arthur Seyß-Inquart (1892-1946) ersetzt.

Hitlers Marsch auf Wien konnte beginnen. Logistisch betrachtet ging das Unternehmen jedoch daneben und endete im Totalchaos auf Deutschlands und Österreichs Straßen.

Hinter der Landesgrenze standen Abertausende von Österreichern Tag wie Nacht entlang der Straßenränder und jubelten: "Der Führer kommt". Er kam aber nicht, mehr als einen ganzen langen Tag lang.

Die Wehrmachtpanzer und das sonstige fahrende Kanonenzeug sowie Hundertschaften von die Truppe transportierenden Opel Blitz-Lkw endeten, vielfach auch in Panne gefallen, in einem Monster-Stau und verstopften nahezu alle zwischen dem Deutschen Reich und Österreich befahrbaren Wege. Nichts kam mehr durch, auch Adolf Hitler selbst und sein engster Kreis nicht, in ihren Maybach- und Mercedes-Limousinen.

In einer Nacht- und Nebelaktion musste eine Handvoll Panzer und Stoßtruppen mit der Eisenbahn nach Wien gebracht werden, um dort den Eindruck eines Jubelanschlusses "Heim ins Reich" erwecken zu können. Der Führer tobte.

Hätten die Westmächte damals auch nur symbolisch zugeschlagen, wäre die gesamte Hitlerei in ihrem feuchten Dreck versunken. Nichts im "Reich" war damals, zu Anfang 1938, bereit, einem solchen "Präventivschlag" zu widerstehen.

Treibjagd auf das Wiener Judentum

Ganz gegen Ende des Buches wird es gespenstisch, vampiresk. Gleich nach Hitlers schließlich doch noch vollzogenem Einmarsch in Wien begann die Treibjagd auf das innerstädtische Judentum. In den von Juden bewohnten Häusern und Wohnungen häufen sich die spontanen Selbstmorde.

Man schneidet sich die Pulsadern auf, schluckt gläschenweise Schlaftabletten, greift zum Revolver in der Schreibtischschublade, erhängt sich an einem Türrahmen, springt vom Dachgeschoss auf die Straße.

Besonders "beliebt" scheint das Aufdrehen des Gashahns gewesen zu sein. Doch die Kunde davon dringt bis in die Verwaltungsetagen des städtischen Gaswerks. Dort wird entschieden, allen als jüdisch bekannten Haushalten das Gas abzudrehen.

Angeblich vorgebrachte Begründung (die Quellenlage zu diesem Detail der Geschichte ist nicht ganz eindeutig): die sich derart suizierenden Juden wären nicht mehr in der Lage, die nächste monatliche Gasrechnung zu bezahlen.

Unterm Strich resümiert der Autor, und da täuscht er sich nicht: die Selbstmorde der Betroffenen sind keine Selbstmorde mehr, "leur suicide est le crime d'un autre" (ihr Selbstmord ist das Verbrechern eines Anderen). Durch Wiens fesche Straßen zieht Gasgeruch.

Arthur Seyß-Inquart erreicht nach einer judenmordenden Blitzkarriere in Österreich, Polen und den Niederlanden die Rache der Götter. Im Nürnberger Prozess gegen die erste Big Nazi-Garnitur wird er zusammen mit anderen Spitzenkollegen zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet.

Ende auf der Schokoladenseite des Daseins

Die letzten Sekunden seines Lebens, als der Henker ihm die genickbrechende Schlinge um den Hals legt, werden anschaulich geschildert. Dann stürzt er ins sich unter seinen Füssen öffnende Loch.

Nationalkatholik Kurt Schuschnigg (1897-1977) hingegen endet nach sieben Jahren nicht allzu strenger Nazi-"Schutzhaft" auf der Schokoladenseite des Daseins. Schuschnigg emigriert gleich nach 1945 in die USA, wird dort Professor für politische Wissenschaften (Saint-Louis University) und stirbt schließlich friedlich 1977 in Tirol.

Wie gesagt, "L'ordre du jour" (zu übersetzen mit "die Tagesordnung" oder auch "der Tagesbefehl") ist auf Französisch geschrieben, in einem sprachlich brillanten Wurf. Wohl denen, die die Sprache beherrschen, denn das Ganze wäre Pflichtlektüre für solche, die wissen wollen, wie es damals wirklich gewesen ist.

Eric Vuillard: L'ordre du jour. Verlag Actes Sud Littérature Arles 2017, 160 Seiten, 16 Euro.

Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt "Mittelmeerkulturen"). Zahlreiche Publikationen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Lebt heute in Südfrankreich.

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