NS-Täter in Nachkriegszeit:Braune Tentakel

40. Todestag Konrad Adenauer

Erster deutscher Bundeskanzler: Konrad Adenauer (CDU)

(Foto: dpa)
  • Spiegel-Redakteur Felix Bohr verfolgt in seiner Dissertation das Konzept der Vergangenheitspolitik bis hin zur Regierung Kohls.
  • Die Studie offenbart das Ausmaß der Hilfe für NS-Kriegsverbrecher im Ausland.

Rezension von Knud von Harbou

Die Fährte legte erstmals Norbert Frei 1996 mit dem Titel seiner Habilitationsschrift "Vergangenheitspolitik". Der Begriff entwickelte sich zum geflügelten Wort und meint, dass dreierlei staatliches Handeln die fünfziger Jahre auszeichnete: die Amnestierung und Integration früherer Unterstützer des Dritten Reichs bei "gleichzeitiger normativer Abgrenzung vom Nationalsozialismus".

Jedoch habe sich keiner der Protagonisten dieser "Kriegsverbrecherlobby" um die Lage der Juden in den Nachkriegsjahren gekümmert, beklagte die Konferenz der Landesrabbiner in Deutschland 1949.

Im Hintergrund stand die mediale wie politische Leitlinie, die einen Schlussstrich unter die Vergangenheit forderte. Damit erhoffte sich vor allem Adenauer mehr Wähler.

Kontinuierlicher Appell, Kriegsverbrecher "aus humanitären Gründen" freizulassen

Der Spiegel-Redakteur Felix Bohr verfolgt nun in seiner Dissertation das Konzept der Vergangenheitspolitik bis hin zur Regierung Helmut Kohls. Offiziell begründet wurde diese Haltung mit dem kontinuierlichen Appell, besonders im Ausland einsitzende Kriegsverbrecher "aus humanitären Gründen" freizulassen.

Diese plakative Forderung überdeckte indes das erhebliche Engagement privater Organisationen wie der "Stillen Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte e. V.", des Zusammenschlusses Angehöriger der ehemaligen Waffen-SS zur "Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit" (HIAG), des "Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen" (VdH).

In den 50er-Jahren traten an die 2000 solcher Vereinigungen auf, noch Ende 1977 wurde ein Dutzend Verbände dazu gezählt. Gesondert wird die Motivlage beider Kirchen in ihrem Bemühen für inhaftierte Täter untersucht. Lagen ihr wirklich nur christliche Grundsätze wie Vergebung zugrunde oder eine handfeste Ideologie vergangener Zeiten?

Diese Verbände entwickelten zunehmend einen enormen Einfluss auf die Bonner Politik, die Medien und die Öffentlichkeit. In ihnen und durch sie spiegelten sich alle Facetten deutscher Erinnerungskultur, also der Umgang mit dem Nationalsozialismus in privater wie kollektiver Wahrnehmung als Teil einer Ideologiegeschichte. Sie offenbart die im Umfeld der Täterbetrachtung relevanten Probleme wie Schuld/Kollektivschuld, Verbrechen der Wehrmacht/"saubere Wehrmacht" oder das Thema Befehlsnotstand.

Nirgends sonst findet man das gesamte revisionistische Vokabular, mit dem die Täter versuchten sich zu exkulpieren, so gebündelt. Auch Bohr verweist auf die rhetorische "Verunklarung" (Norbert Frei), mit der strafrechtliches Verhalten kaschiert werden sollte. So wurde aus den wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilten Tätern der Nürnberger Prozesse bereits Ende der 40er-Jahre "sogenannte Kriegsverbrecher", in den 60er-Jahren dann anonymisiert offiziell nur noch "Kriegsverurteilte".

Felix Bohr handelt die Geschichte der bundesdeutschen Kriegsverbrecherhilfe ab anhand des in Deutschland für Empörung sorgenden Falls von Herbert Kappler, SS-Obersturmbannführer und Leiter des Sicherheitsdienstes in Rom, verurteilt wegen Mordes an 335 italienischen Zivilgeiseln in den römischen Fosse Ardeatine zu lebenslanger Haft.

Etwa zeitgleich verurteilte ein niederländisches Gericht vier deutsche Angehörige des Sicherheitsdienstes sowie einen stellvertretenden KZ-Kommandanten (bekannt als "Vier von Breda") zum Tode bzw. aufgrund von späteren Gnadenerlassen zu lebenslanger Haft.

Historisch relevanter als die Details der Verbrechen und Verurteilung ist die Entstehung der Lobby für die Kriegsverbrecher und wie sich die Politik der Adenauerzeit bis 1961 daran orientierte.

Es waren die Kirchen, die sich in der "Stunde Null" um die knapp 100 000 verurteilten deutschen und österreichischen Delinquenten kümmerten, allerdings von Anfang an mit bekannten Maßstäben: die Rechtsschutzstelle des EKD-Hilfswerks unterstand zunächst einem "stramm nationalen" Senatspräsidenten und man wusste, dass sich unter den hilfsbedürftigen Häftlingen zahlreiche NS- und Kriegsverbrecher befanden.

Der Tenor der EKD-Broschüren blieb vier Jahrzehnte gleich, es war die Rede von "angeblichen Kriegsverbrechern", Zweifel an der Objektivität ausländischer Gerichte, qualvolle Haftbedingungen, und natürlich wurde der Aspekt Schuld negiert.

Wie die evangelische Kirche begann auch die katholische die Alliierten zu diskreditieren. Zentral dabei das Argument, die Deutschen hätten von dem Genozid kaum Kenntnis gehabt, vielmehr seien sie selbst mehr Opfer als Verursacher gewesen. Insofern lag es nahe, rigoros alle Kollektivschuldvorwürfe zu bestreiten.

Das steigerte sich in Form aktiver Fluchthilfe, über die sogenannte Rattenlinie entkamen allein nach Argentinien etwa 800 hohe NS-Funktionäre, unter ihnen Adolf Eichmann.

Unterstützungswerke hatten "Geld wie Heu"

Drehscheibe illegaler Auswanderung war in Rom Bischof Alois Hudal, der für Bonn von 1949 an wichtigster Ansprechpartner wurde. Vieles ist dabei längst aufgearbeitet, dennoch ist eine solche Überschau wie von Felix Bohr sehr eindrucksvoll. Zu schnell versickert das Wissen um diese Zusammenhänge der frühen BRD.

Für die Kriegsverbrecherfrage wurde der Bonner Wehrbeitrag entscheidend. Adenauer verknüpfte 1950 Zusagen zur Wiederaufrüstung mit dem Abbau des Besatzungsstatuts, einschließlich Einstellung der Kriegsverbrecherprozesse sowie umfassender Begnadigungen.

Flankierend ließ er die "Himmeroder Denkschrift" von ehemaligen Wehrmachtsoffizieren veröffentlichen, in der eine Ehrenerklärung der Vertreter der Westmächte und Freilassung der "als Kriegsverbrecher" zu Unrecht verurteilten Deutschen, die ja nur auf Befehl gehandelt hätten, gefordert wurde.

Rein quantitativ hatte Adenauer beste Karten. Die Kassen der Unterstützungswerke hatten "Geld wie Heu", und die für die Betreuung der Kriegsverbrecher zuständigen Beamten des Auswärtigen Amtes waren 1950 noch zu 47 Prozent NSDAP-Mitglieder gewesen.

Buchcover für die Literaturbeilage vom ET 9.10.2018

Felix Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 558 Seiten, 28 Euro.

Die Hilfswerke im Einklang mit der Politik konnten ganz unverblümt die Kriegsverbrechen relativieren, so hätten die Partisanen die "ritterliche" Kriegsführung der Wehrmacht in Italien "vergiftet", was einen Freibrief implizierte. Und es war eh nur noch von "einfachen Gefangenen" oder "Häftlingen" die Rede, die Forderung nach vollständiger Abwicklung der Kriegsverbrecherfrage unanstößig.

Offen konnte Adenauer 1953 den wegen Kriegsverbrechen verurteilten SS-General Kurt Meyer im Gefängnis Werl besuchen (und Kurt Schumacher (SPD) den HIAG-Gründer empfangen).

So gesehen hatten Verbände wie Politik mit ihrer Rhetorik bis Ende der 50er-Jahre ein leichtes Spiel, erst im April 1958 führte der Ulmer-Einsatzgruppen-Prozess einer breiteren Öffentlichkeit die NS-Massenmorde vor Augen und vor allem, dass die Täter frei herumliefen. Im gleichen Jahr nahm die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg ihre Arbeit auf und bedingte eine Änderung des Diskurses.

Bohr: "Das Offenbarwerden der deutschen Schuld drängte zwangsläufig das gesellschaftliche Opfernarrativ zurück." Um die Hilfe für die inhaftierten Kriegsverbrecher noch legitimieren zu können, musste die Bundesregierung deren Taten bagatellisieren.

Die BRD war noch viel "brauner", als gedacht

Zwar erhob sich weiterhin der Ruf nach einem Schlussstrich, aber nur mehr diskret vorgetragen. Wie sich auch der Modus offener Hilfe zugunsten einer verdeckten änderte. Doch auch das änderte nichts daran, dass aus der vier Jahrzehnte lang geforderten Generalamnestie nichts wurde.

Bohrs wichtige Aufarbeitung, deren gut recherchiertes Faktenreichtum besticht, lässt einen fassungslos zurück ob der braunen Tentakel. Notgedrungen bleiben Fragen offen.

Eine davon ist die nach der ideologischen Verankerung der jungen Bundesrepublik und der "Tendenzwende" (Edgar Wolfrum) Ende der 70er-Jahre. Nur damit erhält man ein geschlossenes Bild: Die BRD war noch viel "brauner", als sie gemeinhin wahrgenommen wird.

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