Süddeutsche Zeitung

Abstimmung über Unabhängigkeit:Schottland, vernimm mein Flehen!

Die Tories sind in Schottland phänomenal unbeliebt, das weiß David Cameron sehr gut. Dennoch traut sich der Premier vor dem Unabhängigkeitsreferendum in die Höhle des Löwen - und fährt alles auf, was für den Verbleib in Britannien sprechen könnte.

Von Christian Zaschke, London

David Cameron schien den Tränen nahe zu sein. Da der britische Premierminister für gewöhnlich ein schlechter Schauspieler ist, kann es gut sein, dass er wirklich tief bewegt war, als er sich am Mittwoch in Edinburgh an die Einwohner Schottlands wandte.

"Ich liebe mein Land mehr als meine Partei", sagte er, womit er meinte, dass er sich einen Verbleib der Schotten im Vereinigten Königreich wünscht, obwohl seine Konservative Partei in Schottland phänomenal unbeliebt ist.

Cameron sagte: "In dieser Abstimmung geht es nicht darum, dass Sie den verdammten Tories einen Tritt geben, weil Sie die Partei nicht ausstehen können. Es geht um eine Entscheidung für Jahrhunderte."

"Mir würde das Herz brechen"

Mit diesem emotionalen Appell hat Cameron die Schotten dazu aufgerufen, im Referendum über die Unabhängigkeit in der kommenden Woche mit Nein zu stimmen. Dabei hat er bewusst nicht auf die Unwägbarkeiten einer Abspaltung hingewiesen. Cameron hat sich darauf konzentriert, das Positive hervorzuheben. Er pries die seit mehr als 300 Jahren bestehende Union und sagte, es würde ihm "das Herz brechen, wenn die Nationenfamilie auseinandergerissen" würde.

Camerons neuer Ton bedeutet wenige Tage vor der Wahl einen bemerkenswerten Wechsel. Bisher hatten die Gegner der Unabhängigkeit vor allem argumentiert, dass Schottland einen Sprung ins Ungewisse wage, weil niemand wisse, was die Unabhängigkeit wirklich mit sich bringe.

Seitdem jüngste Umfragen zeigen, dass es tatsächlich eine Mehrheit für die Unabhängigkeit geben könnte, haben sie ihre Strategie geändert und heben das Positive hervor. Die Betonung der Unwägbarkeiten kam bei den Wahlberechtigten offenbar nicht gut an. Dabei sind tatsächlich so gut wie alle Fragen offen.

Sicher ist allein, dass am 18. September nur eine Frage auf dem Wahlzettel stehen wird: "Sind Sie der Ansicht, dass Schottland ein unabhängiges Land sein soll?" Darüber dürfen circa vier Millionen wahlberechtigte Einwohner Schottlands entscheiden. Nicht in Schottland lebende Schotten dürfen nicht abstimmen. Die Wahlkommission rechnet mit einer Beteiligung von mehr als 80 Prozent.

Sollte Schottland unabhängig werden, würde es voraussichtlich eine konstitutionelle Monarchie werden, was hieße, dass Elizabeth II. Staatsoberhaupt bliebe. Derzeit ist die Queen Staatsoberhaupt des Vereinigten Königreichs sowie 15 weiterer Staaten, der sogenannten Commonwealth Realms. Zu denen gehören zum Beispiel Australien und Kanada. Elizabeth ist in der Debatte neutral, in dieser Woche hat sie erneut betont, es sei allein an den Schotten, in dieser Frage zu entscheiden.

Die zuletzt am Rande der Debatten auftauchende Frage, ob nicht die Stuarts zurück auf den schottischen Thron kehren würden, stellt sich eher nicht. Aufgelöst werden soll die 1707 geschlossene "Union of the Parliaments", nicht die seit 1603 bestehende "Union of the Crowns".

Schottische Jakobiten vertreten zwar die Ansicht, dass der rechtmäßige britische Thronfolger ein Stuart sein müsse, weil König James II. im 17. Jahrhundert unrechtmäßig vertrieben worden sei, aber mit dieser Ansicht stehen sie allein. Statt Elizabeth II. müsste in ihren Augen Herzog Franz von Bayern auf dem Thron sitzen (als Francis II.), weil dieser ein direkter Nachfahre einer Tochter Charles I. ist, der 1649 unter Oliver Cromwell enthauptet wurde.

Anders als das derzeit bestehende Königreich würde sich ein unabhängiges Schottland eine geschriebene Verfassung geben. Wie genau diese aussehen soll, ist, wie so vieles, noch unklar. Sicher ist jedoch, dass konstitutionell verankert werden soll, dass Schottland eine atomwaffenfreie Zone wird. Das hat Weiterungen.

Großbritannien ist eine Atommacht. Die mit Nuklearraketen bestückten U-Boote sind in der Militärbasis Faslane am Fluss Clyde in der Nähe von Glasgow stationiert. Nach dem Willen von Alex Salmond, dem Chef der Scottish National Party (SNP), sollen diese Boote bis 2020 aus Schottland verschwunden sein.

Das würde die Regierung in Westminster vor Probleme stellen. Ein Umzug wäre nicht nur teuer, es fehlt auch ein ähnlich geeigneter Standort. 7000 Menschen arbeiten auf dem Stützpunkt. Salmond hofft, die Arbeitsplätze erhalten zu können, da eine neue, schottische Marine in Faslane ihren Heimathafen haben soll.

Allerdings würde viel Fachpersonal an den neuen Stützpunkt der U-Boote ziehen. Gleiches gilt für die Beamten. Von den 44 000 Beamten arbeiten 17 000 für die schottische Regionalregierung. Die übrigen 27 000 sind für Ministerien in London zuständig. Ihre Zukunft ist ungewiss. Da Schottland viele Beamte benötigen würde und der Rest des Königreichs plötzlich zu viele hätte - die Bevölkerungszahl hätte sich ja um acht Prozent reduziert -, gilt ein Transfer von Beamten als möglich.

Ebenso unklar ist, ob es eine gesicherte Grenze zwischen beiden Ländern gäbe. Ein unabhängiges Schottland würde der EU beitreten wollen. SNP-Chef Salmond ist der Ansicht, das funktioniere quasi automatisch. Der vormalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat jedoch gesagt, Schottland müsse sich neu bewerben.

Nach einer Trennung könnten Grenzkontrollen zwischen den Ländern nötig werden

Das könnte bedeuten, dass das Land das Schengener Abkommen akzeptieren muss, das die Abschaffung der Kontrollen an EU-Binnengrenzen regelt. Da Großbritannien nicht Teil des Schengen-Raums ist, könnten Grenzkontrollen zwischen England und Schottland nötig werden.

Weitere Unsicherheit herrscht über das Vorgehen bei der britischen Parlamentswahl im Mai 2015. Von 59 schottischen Parlamentariern gehören derzeit 41 der Labour-Partei an. Es könnte also gut sein, dass Labour dank der schottischen Abgeordneten die Wahl gewinnt. Wenn sich Schottland - so der Plan - im März 2016 unabhängig erklärte, würden diese das Unterhaus verlassen.

Manche Tories fordern daher, die für 2015 angesetzte Wahl zu verschieben, sollte Schottland für die Unabhängigkeit stimmen, doch dafür fehlt die rechtliche Grundlage. Ungeachtet dieser Frage würde ein unabhängiges Schottland im Mai 2016 ein neues Parlament wählen: das Parlament eines souveränen Staates.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2123442
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 11.09.2014/odg
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.