Süddeutsche Zeitung

Abstimmung über den ESM im Bundestag und Bundesrat:Wie man einen Vertrag ändert, ohne ihn zu ändern

Bundestag und Bundesrat sollen über den ESM-Vertrag abstimmen - doch darin steht kein Wort von den auf dem EU-Gipfel beschlossenen Finanzhilfen. Die Bundeskanzlerin erklärt: Macht nichts. Dabei ist damit der Vertrag bereits gebrochen, bevor er überhaupt abgeschlossen ist, urteilen Experten.

Heribert Prantl

Der Satz "pacta sunt servanda" ist fast so alt wie Europa: Verträge müssen eingehalten werden. Ist ein Vertrag in Kraft, so bindet er die Vertragsparteien und ist von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen. Man nennt das "Vertragstreue". Die Organe der EU und deren Mitgliedsstaaten haben aber bisher von dieser Vertragstreue nicht allzu viel gehalten. Und diesmal, beim ESM, beginnt die Untreue nach Ansicht der Kritiker schon, bevor der Vertrag wirksam ist.

Die EU in ihrer heutigen Fasson beruht - im Guten wie im Schlechten - darauf, dass die europäischen Verträge ausgedehnt, überdehnt, verletzt und gebrochen worden sind. Das war bisweilen mutig, das hat Europa vorangebracht. Das war oft gefährlich, das hat Europa in Turbulenzen gestürzt.

Ein exemplarisch-gefährliches Beispiel ist der Stabilitätspakt; er verpflichtete Euro-Staaten 1997 mittels der sogenannten Defizitkriterien, für einen ausgeglichenen Staatshaushalt und eine Begrenzung der Verschuldung zu sorgen. Kaum einer hat sich daran gehalten. Kurzum: Die EU ist mit der Nichteinhaltung von Verträgen groß (aber nicht unbedingt kräftig) geworden.

Kein Wort von den Beschlüssen des EU-Gipfels

Der Vorwurf gegen den ESM ist gleichwohl neu. Er lautet so: Der Vertrag wird schon gebrochen, bevor er abgeschlossen ist. So etwa kommentiert der Leipziger Staatsrechtsprofessor Christoph Degenhart die Situation, die mit den Beschlüssen des EU-Gipfels in der Nacht von Donnerstag auf Freitag für Bundestag und Bundesrat entstanden ist. Diese Beschlüsse erlauben unter anderem die Direktzahlung höchster Geldsummen an die Großbanken. Das alles ist im Text des ESM-Vertrages, der Bundestag und Bundesrat am Freitag vorgelegt wurde, nicht vorgesehen.

Von all den Gipfelbeschlüssen findet sich im ESM-Vertrag kein Wort. In den Artikeln 14 bis 18 werden die möglichen Finanzhilfe-Instrumente aufgezählt. Die beim EU-Gipfel beschlossenen finden sich da nicht.

Muss also nicht erst der Vertragstext geändert werden, bevor man ihn zur letzten Abstimmung stellt? Kann man einen schon überholten Text beschließen? Werden diesmal die Kriterien schon aufgeweicht, bevor sie überhaupt verabschiedet sind? Wird hier der ordentliche Gesetzgebungsprozess missachtet und pervertiert? Nicht nur Kritiker des ESM-Vertrages, aber natürlich auch sie, sind dieser Ansicht.

Der Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek, der den Verfassungskläger Peter Gauweiler in Karlsruhe vertritt, spricht von einem "Hohn auf die parlamentarische Beratung", wenn kurz vor der entscheidenden Abstimmung alles über den Haufen geworfen wird, was bisher gegolten hat. Das sei keine Gesetzgebung mehr.

Unordentlich ist sie in der Tat: Schon die Terminierung der finalen Abstimmungen am späten Freitag signalisiert Unseriösität. Bei der ersten Lesung am 29. März fehlte noch der komplette Teil über die Beteiligungsrechte des Bundestags; an der einschlägigen Stelle fand sich nur eine Klammer mit Pünktchen darin. Nun ist zwar die Leerstelle gefüllt, aber jetzt hat der ESM-Vertrag selbst neuen, noch ungeschriebenen Inhalt.

Immer neue Belege für die Verfassungswidrigkeit

Die Bundeskanzlerin erklärt: Macht nichts. Es handele sich nur um eine neue Interpretation und Ausfüllung des Vertrages. Ist das so? Ein Mitglied der Bundesregierung sagt: Diese Frage sei nicht nur ein heißes Eisen, "sondern die Steigerung davon". Wer genau liest, findet im Artikel 19 die Formulierung, dass der "Gouverneursrat" des ESM die im Vertrag aufgezählten Finanzhilfe-Instrumente "verändern" kann. Er wird also sogleich in seiner ersten Sitzung, nachdem der Vertrag unter Dach und Fach ist, die auf dem EU-Gipfel beschlossenen neuen Zahlungshilfen beschließen. Von einer dafür erforderlichen Zustimmung des Bundestags steht nichts im Vertrag.

Die Kläger gegen den ESM in Karlsruhe haben ihre Klagen auch auf dieses Manko gestützt. Eine Zustimmung des Bundestags ist nur im deutschen Begleitrecht, dem Parlamentsbeteiligungsgesetz, vorgesehen. Die Parlamentszustimmung ist also völkerrechtlich nicht abgesichert. Wenn der Bundestag gar nicht gefragt wird, oder wenn er ablehnt, aber der deutsche Vertreter im Gouverneursrat sich nicht daran hält - dann werden die neuen Instrumente trotzdem wirksam. Und der deutsche Falsch-Abstimmer im Gouverneursrat ist nach den Regeln des ESM-Vertrags immun.

Dessen Kritiker halten das alles für aberwitzig. Staatsrechtler Murswiek sagt, er komme mit dem Aufschreiben neuer Belege der Verfassungswidrigkeit gar nicht mehr nach: Der ganze Gang der Gesetzgebung sei die beste Begründung.

Wer weiß, wie Gesetze und Würste zu Stande kommen, kann nachts nicht mehr ruhig schlafen" - hat einst Bismarck gesagt. Beim ESM wissen es alle.

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SZ vom 30.06.2012/arie
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