Abschuss von Flug MH17:"Der Luftraum hätte gesperrt werden müssen"

Abschuss von Flug MH17: Mahnung an 298 tote Passagiere: Ein Künstler arbeitet in Kuala Lumpur an einem Graffito zur Erinnerung.

Mahnung an 298 tote Passagiere: Ein Künstler arbeitet in Kuala Lumpur an einem Graffito zur Erinnerung.

(Foto: Mohd Rasfan/AFP)
  • Vor dem Abschuss von Flug MH17 über der Ostukraine war der BND bereits alarmiert über eine "neue Qualität" der Bedrohung im Luftraum.
  • Er teilte der Bundesregierung mit, dass es in den umkämpften Gebieten keine Luftsicherheit mehr gebe, aber am Ende warnte niemand die Fluggesellschaften.
  • Am Tag, als Flug MH17 abgeschossen wird, sind weitere 80 Flugzeuge auf der gefährlichen Route unterwegs. Auch Lufthansa-Maschinen.
  • Fachleute aus unterschiedlichen Bereichen sagen, die Ukraine hätte ihren eigenen Luftraum unbedingt sperren müssen.

Von Ralph Hötte, Hans Leyendecker und Demian von Osten 

Der Drahtbericht vom 15. Juli 2014 unter "Top39 Ukraine " an das Auswärtige Amt in Berlin beschäftigte sich mit Sanktionen gegen Russland, trilateralen Gasverhandlungen, dem Austausch von Gefangenen und Geiseln und anderen Angelegenheiten, die alle einigermaßen wichtig zu sein schienen.

Ziemlich am Anfang des Berichts, unter Punkt zwei, stand eine Warnung: "Lage in der Ostukraine sehr besorgniserregend. Abschuss ukr. Transportmaschine in 6000 Metern Höhe stellt neue Qualität dar". Am Tag zuvor war eine ukrainische Transportmaschine vom Typ Antonow in gut sechs Kilometern Höhe von den Separatisten abgeschossen worden. Was meinte "neue Qualität"?

Niemand warnte die Fluggesellschaften vor der Gefahr

Sicherheitsfachleute waren sich ziemlich einig, dass die Rebellen über besonderes Gerät verfügen mussten, um ein Flugzeug in dieser Höhe vom Himmel holen zu können. Vorher sei man sich "total sicher"gewesen, dass Maschinen in dieser Höhe nicht erreicht werden konnten, erklärt der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin. Mit "Manpads", die von der Schulter abgefeuert werden, wäre die Antonow nicht zu erreichen gewesen. Wie reagierten die Regierenden auf die Nachricht von der neuen Gefahr? Sie unternahmen nichts.

Absturzstelle MH17

Die Trümmer der Maschine von Malaysia Airlines lagen weit verstreut über Feldern in der Ostukraine.

(Foto: Jerry Lampen/dpa)

In Deutschland waren die Warner vom BND zwar sehr alarmiert und sie teilten der Bundesregierung in den Lageberichten auch mit, dass es über der Ukraine in den umkämpften Gebieten keine Luftsicherheit mehr gebe, aber am Ende warnte niemand die Fluggesellschaften vor der drohenden Gefahr. Auch der BND nicht. Er war dafür nicht zuständig.

"Zu einer etwaigen Verschärfung der Sicherheitslage für zivile Überflüge über die Ukraine" habe damals die Bundesregierung "keine Informationen gehabt", behauptet das zuständige Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. "Vor dem 17. Juli lagen uns keine Informationen von Seiten der Behörden vor", sagte in der vergangenen Woche ein Sprecher der Lufthansa. "Wenn die Bundesregierung unser Unternehmen mit der Bewertung ,neue Qualität' gewarnt hätte, wäre Lufthansa sicher nicht mehr über die Ostukraine geflogen", sagt ein Insider.

Der 17. Juli ist der Tag, an dem Flug MH17, eine Boeing 777 der Malaysia Airlines, über der Ostukraine abgeschossen wurde. 298 Menschen starben. Es gibt einige Antworten, aber immer noch offene Fragen.

Die Ermittlungen dauern an. Fest steht, dass einige Linien wie Korean Air, Qantas, Air France, British Airways und Air Berlin damals den Luftraum über der Ukraine mieden, aber die meisten Linien flogen auch drei Tage nach dem Abschuss der Antonow über dem Kriegsgebiet. Auch Lufthansa-Maschinen waren darunter. Drei Flugzeuge der deutschen Fluggesellschaft waren es am 17. Juli.

Eine Lufthansa-Maschine flog zwanzig Minuten vor der Boeing 777 über das Gebiet. Etwa achtzig Flugzeuge waren an diesem Tag auf der gefährlichen Route unterwegs. Es sei eine Art "Roulettespielerei" gewesen, wen es treffe, sagt der Anwalt Elmar Giemulla, der für Angehörige eines Opfers vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage eingereicht hat. Es hätte jede Maschine treffen können.

Aber die Katastrophe, so Giemulla, hätte "vermieden werden können". Nicht nur der Fachanwalt für Luftverkehrsrecht ist überzeugt, dass nach dem Abschuss der Antonow "der Luftraum hätte gesperrt werden müssen".

Der BND hat seine Ansicht revidiert

Monatelang hat ein Team von WDR, NDR und SZ alle Spuren über den Abschuss der Maschine zusammengetragen. Die Recherchen führten quer durch Europa und auch nach Übersee. Mit Politikern, Augenzeugen, Separatistenführern, Luftverkehrsexperten, Angehörigen von Opfern, Nachrichtendienstlern wurde gesprochen und das Ergebnis all der Bemühungen lässt sich knapp zusammenfassen: Es spricht fast alles dafür, dass das Passagierflugzeug mit einem Raketensystem zur Flugabwehr, einer in den Siebzigerjahren in der damaligen Sowjetunion entwickelten Buk M1, vom Himmel geholt wurde.

Passagiermaschine in Ostukraine abgestürzt

Das russische Raketen-Abwehrsystem Buk-M2 bei einer Flugschau.

(Foto: Maxim Shipenkov/dpa)

Es gibt keinen Zweifel, dass die Maschine von dem Separatistengebiet aus abgeschossen wurde. Und sehr wahrscheinlich wussten die Schützen nicht, dass sie eine Zivilmaschine im Visier hatten. "Wir haben eine ukrainische Militärmaschine abgeschossen", jubelten unmittelbar nach dem Abschuss prorussische Rebellen im Netz. Viel komplizierter ist die Frage, ob es nur einen Schuldigen gibt. Eher nicht.

Weil damals schon die Lage so unübersichtlich war, hätte, wie Fachleute aus unterschiedlichsten Bereichen sagen, die Ukraine den eigenen Luftraum unbedingt sperren müssen. Das machte sie aber nicht. Sie sperrte nach dem Abschuss der Antonow den Luftraum lediglich bis zu einer Höhe von 9750 Metern. Das traf nicht die Zivilflugzeuge, die in größerer Höhe fliegen und für eine Buk M1 dennoch ein leichtes Ziel bieten.

Eine Sperrung des Luftraumes hätte die Ukraine Millionen Euro gekostet

Bei den Überflugrechten geht es um Geld. Eine Sperrung des Luftraums hätte die Ukraine am Tag schätzungsweise eine halbe bis zwei Millionen Euro gekostet. Das Geld wollte man sich offensichtlich nicht entgehen lassen. Die Ukraine ist klamm.

Einer der Angehörigen hat bei den Recherchen seine Fassungslosigkeit so zusammengefasst: "Mein erster Gedanke war schon, wie es möglich ist, dass ein Flugzeug über ein Land fliegen darf, wo nichts mehr kontrolliert wird." Einige andere Gesellschaften seien doch nicht mehr über dem Gebiet geflogen.

Der Weg der Buk M1 war lange Zeit unter den Geheimdienstlern umstritten. Der BND etwa hing einer anderen Version an als beispielsweise die Amerikaner oder die Ukrainer, die sich sicher gaben, dass die Waffe aus Russland kam.

In Kranotorsk, Luhansk, Donezk und Mariupol, so der BND in einem geheimen Lagebericht, habe die Ukraine über vergleichbare Systeme verfügt. Mindestens zwei der Standorte seien von prorussischen Separatisten überrannt worden. Vielleicht handele es sich bei der Buk um eine Beutewaffe. Dafür gebe es zwar keine Belege. Diese Einschätzung beruhe aber auf Indizien, Plausibilitätserwägungen und Wahrscheinlichkeiten, meinte der BND. Satellitenbilder zeigten, dass einer der Stützpunkte umkämpft gewesen sei.

Inzwischen hat der BND seine Ansicht revidiert. Angeblich ist die Buk M1 doch aus Russland gekommen.

"Todesflug MH 17 - warum mussten 298 Menschen sterben?" Dokumentation in der Reihe "Die Story im Ersten", ARD, 22.45 Uhr.

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