Jahrestag des Abschusses:MH17-Ermittler und ihre Theorien

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Trümmerteil der Malaysia-Airlines-Maschine in der Ostukraine. (Foto: AFP)
  • Ein Jahr nach dem Abschuss von Flug MH17 der Malaysia Airlines spricht vieles dafür, dass die Separatisten sie aus Versehen abschossen.
  • Recherchen von Journalisten und Bilder in sozialen Medien legen eine Beteiligung Russlands nahe.
  • Russland hat sich von seiner Theorie, ein ukrainisches Kampfflugzeug habe die MH17 abgeschossen, abgewandt. Nach wie vor macht Moskau aber die Ukraine für das Unglück verantwortlich.

Von Hannah Beitzer

Die bizarrste Theorie zum Abschuss von Flug MH17 über der Ostukraine geht in etwa so: Die Passagiere des Flugzeugs seien schon vor dem Absturz nicht mehr am Leben gewesen. Inszeniert hätten das Ganze - na klar! - die Amerikaner, die Europa zu einem härteren Kurs gegen Russland zwingen wollten und überhaupt dem Ansehen Moskaus in der Welt schaden wollten. Diese Geschichte fand sich nicht nur in verschwörungstheoretischen Blogs, auch russische Medien griffen gern darauf zurück. Bereits vor dem Abschluss der offiziellen Ermittlungen gibt es Theorien, die realistischer anmuten und sich auf Augenzeugen, Satellitenaufnahmen, Bilder in sozialen Medien, Tonmitschnitte, Experteninterviews und Untersuchungen vor Ort stützen. Die wichtigsten Theorien im Überblick - und was von ihnen zu halten ist:

1. Separatisten haben das Flugzeug mit einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen

Die meisten Experten und westliche Geheimdienste, darunter der BND, gingen früh davon aus, dass die prorussischen Separatisten Flug MH17 versehentlich mit einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen haben.

Im russischen Netzwerk VKontakte tauchte kurz nach dem Unglück ein Eintrag unter dem Namen des Separatistenführers Igor Girkin alias Strelkow auf, der sich mit dem Abschuss eines ukrainischen Transportflugzeuges brüstete. Neben dem Eintrag auf dem sozialen Netzwerk war Videomaterial zu sehen, das stark den Aufnahmen vom Absturzort der malaysischen Maschine ähnelte. Der Eintrag wurde kurze Zeit später wieder gelöscht und Strelkow behauptete, er sei eine Fälschung gewesen.

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Der ukrainische Geheimdienst SBU legte außerdem angebliche Telefonmitschnitte zwischen prorussischen Rebellen und einem Angehörigen des russischen Militärs vor. Dort sagt einer der Abgehörten: "Es waren die Jungs von der Straßensperre Tschernuchin, die das Flugzeug abgeschossen haben, Major." In einem zweiten Anruf erklärt eine Stimme - angeblich nach der Inspektion der Absturzstelle -, dass das abgeschossene ein ziviles Flugzeug sei und dass es zahlreiche Tote gebe. Die Frage nach Waffen an Bord verneint der vermeintliche Separatist. Auch US-Geheimdienstler erklärten, über die Mitschnitte zu verfügen, äußerten sich aber vorsichtiger über Nationalität und Identität der Sprecher.

Auch Augenzeugenberichte, die westliche Journalisten unterschiedlicher Medien vor Ort sammelten, untermauern die Theorie. Inzwischen gab es auch mehrere Berichte von Journalisten, die angeben, den Abschussort der Rakete gefunden zu haben: Im Süden der Stadt Snischne, im Oblast Donezk. Anwohner bestätigten einem Team von WDR, SZ und NDR in Gesprächen, dort eine Buk gesehen und sogar das typische Abschussgeräusch gehört zu haben.

Ein Video zeigt außerdem, wie ein Buk-Raketenwerfer am 17. Juli 2014 auf Ketten in Richtung eines Feldes rollt. Auf Satellitenaufnahmen erkennt man, dass ein Teil des Feldes zwischen dem 16. und 20. Juli 2014 (der Absturz war am 17. Juli 2014) entweder abgebrannt ist oder umgepflügt wurde. Das Journalistenbüro Correctiv hat ein Video aus den sozialen Medien vor Ort überprüft und kam dabei zu dem Schluss, dass ein Buk-Raketenwerfer, auf der eine Rakete fehlte, von Snischne aus in Richtung russische Grenze gefahren ist.

2. Die Separatisten taten das mit Hilfe Russlands

Die Separatisten bestritten zunächst, über das nötige Gerät zu verfügen. Dem widersprachen Bilder, die über soziale Medien verbreitet wurden. Zum Beispiel brüsteten sich Separatisten damit, von der ukrainischen Armee ein Raketenabwehrsystem erbeutet zu haben. Die dementierte das - und behauptete, Russland habe das System samt Bedienpersonal in die Ostukraine geliefert. Die russischen Truppen an der Grenze zur Ostukraine verfügen über entsprechende Systeme. Dem schloss sich auch das US-Verteidigungsministerium an.

Zu ähnlichen Erkenntnissen kommt auch die Plattform Bellingcat, die den Weg der Buk-Rakete anhand von Material aus den sozialen Medien nachzeichnete. Schon früh gab es Zweifel daran, dass die Aufständischen in der Ostukraine in der Lage sind, ein komplexes System wie dieses selbst zu bedienen. Es gibt schon seit Ausbruch des Krieges Hinweise, dass russische Spezialkräfte in der Ostukraine kämpfen.

Das Recherchebüro Correctiv veröffentlichte in Zusammenarbeit mit dem Spiegel eine umfangreiche Recherche. Die Journalisten befragten mehrere Monate lang Augenzeugen, Warlords der Separatisten und zahlreiche Experten zum Abschuss, werteten Daten aus und kamen zu dem Schluss, dass nur Experten der russischen Armee das Flugzeug von ukrainischem Boden aus mit einer Buk-Rakete abgeschossen haben können. Fünf Jahre dauert demzufolge die Ausbildung an dem Raketensystem in der russischen Armee, so komplex sei es. Moskau streitet eine Beteiligung bis heute ab.

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3. Die ukrainische Armee hat das Flugzeug mit einem Kampfjet abgeschossen

Russische Medien hatten immer wieder die These vertreten, ein ukrainisches Kampfflugzeug habe MH17 aus der Luft abgeschossen. Zum Beispiel hat das russische Fernsehen Satellitenaufnahmen verbreitet, die einen Kampfjet des Typs MiG-29 zeigen sollen. Das russische Verteidigungsministerium hatte behauptet, dass sich zum Zeitpunkt des Abschusses eine ukrainische Maschine vom Typ Su-25 in der Nähe der Boeing befunden habe. Kiew hatte das stets bestritten. Die russische Theorie stützt sich auch auf die Aussage eines angeblichen Mechanikers der ukrainischen Luftwaffe, der Ende 2014 in russischen Medien zu Wort kam und beobachtet haben will, dass eine Su-25 ohne Raketen von einem Flug zurückgekehrt sei.

Experten bezweifeln die Theorie: So sagte zum Beispiel der russische Chefentwickler des Kampfjets Su-25, Wladimir Babak, in einem Interview mit WDR, Süddeutscher Zeitung und NDR: Die MH17 sei zu hoch geflogen, um von einer Su-25 abgeschossen werden zu können, die sei "ein Tiefflieger". Zudem könne eine Luft-Luft-Rakete die Boeing nur beschädigen, sie war aber in der Luft auseinandergebrochen.

Auch die Einschusslöcher der abgeschossenen Boeing 777 sähen nach Ansicht von Experten bei dem Einsatz einer Luft-Luft-Rakete ganz anders aus. Vor allem gäbe es deutlich weniger Einschusslöcher.

4. Die ukrainische Armee hat die MH17 vom Boden aus abgeschossen

Mitte des Jahres 2015 war in Russland eine Kurskorrektur zu betrachten. Plötzlich sprachen auch russische Medien vom Abschuss durch eine Buk anstelle eines Kampfjets, als Erstes die auch im Westen angesehene Nowaja Gaseta im Mai. Sie berief sich auf einen Bericht russischer Ingenieure.

Allerdings gibt der Bericht nicht den Separatisten die Schuld. Die Ingenieure legten Satellitenbilder vor, die zeigen sollen, dass der Abschuss von einer ukrainischen Stellung aus erfolgte. Blogger des Rechercheteams Bellingcat behaupteten kurz nach der Veröffentlichung der Bilder, diese seien manipuliert worden. Die Bilder stammten eindeutig von einem Zeitpunkt vor dem Abschuss von MH17.

Diesen Bericht wiederum verurteilen erfahrene Bildforensiker im Interview mit Spiegel Online: Die Methode von Bellingcat sei unwissenschaftlich und liefere keine eindeutigen Ergebnisse, die Blogger betrieben "Kaffeesatzleserei". Das Recherche-Kollektiv konterte mit neuen Satellitenbildern, die die These von Moskaus Lügen stützen sollen.

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Im Ukraine-Krieg beziehen sich beide Seiten immer wieder auf Satellitenbilder - und werden dafür ebenso regelmäßig kritisiert. "Satellitenbilder sind kein sicherer Beweis, es kommt auf die Interpretation der Aufnahmen an", sagte zum Beispiel ein früherer hochrangiger deutscher Nachrichtendienstler der SZ. In diesem Zusammenhang wird auch gerne auf die angeblichen Beweisbilder für Massenvernichtungswaffen im Irak hingewiesen, die US-Außenminister Colin Powell 2002 vorlegte, und die sich später als falsch erwiesen. Ein Problem ist auch: Die Geheimdienste präsentieren aller Wahrscheinlichkeit nach nie alles Material, das sie haben, um dem Gegner nicht die eigenen Fähigkeiten und Methoden zu offenbaren.

Kurz vor dem Jahrestag ist Moskau wieder zu seiner ursprünglichen Version zurückgekehrt: Flug MH17 sei von einer Luft-Luft-Rakete abgeschossen worden.

5. Vorwürfe an die Ukraine - und die Bundesregierung

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Selbst die, die von einem Abschuss durch die Separatisten ausgehen, erheben allerdings schwere Vorwürfe gegen die Ukraine. Sie hätte ihren Luftraum über der Ostukraine nach dem Abschuss eines Transportflugzeugs in 6500 Meter Höhe wenige Tage vor der MH17-Katastrophe sperren müssen. Spätestens da hätte Kiew klar sein müssen, dass es in der Ostukraine schwere Flugabwehr-Raketensysteme gebe. Der Verdacht: Die Ukraine wollte nicht auf die Überfluggebühren verzichten, die sie von den Fluggesellschaften bekommt. Das Recherche-Büro Correctiv geht in seiner Geschichte zum Absturz noch weiter: Die ukrainische Armee habe Kampfbomber zwischen zivilen Flugzeugen verstecken wollen, die Passagiere so als "menschliche Schutzschilde" missbraucht.

Auch die Bundesregierung - genauer das Auswärtige Amt - sei für den Tod der MH17-Passagiere mitverantwortlich, werfen ihr zum Beispiel die Reporter von Correctiv vor. Bereits Tage vor der Katastrophe habe sie über die Gefahr im ukrainischen Luftraum Bescheid gewusst, den Fluggesellschaften aber nicht Bescheid gesagt. Das zeigen auch Recherchen der Süddeutschen Zeitung, wonach bereits am 15. Juli ein Drahtbericht an das Auswärtige Amt die Lage in der Ukraine nach dem Abschuss eines ukrainischen Transportflugzeugs als "sehr besorgniserregend" bezeichnete. Das Auswärtige Amt äußert sich zu Nachfragen bisher nicht konkret, weswegen die Reporter von Correctiv Auskunftsklage eingereicht haben.

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