Süddeutsche Zeitung

Abschied von der Kohle:Ins Freie

Im Ruhrgebiet schließt die drittletzte Steinkohlenzeche, 2018 ist endgültig Schluss. Und Braunkohle? Nach dem Klima-Abkommen von Paris ist klar, dass der Ausstieg kommt. Fragt sich nur, wann.

Von Kristiana Ludwig, Marl

Der Mann, der das Wetter macht, heißt Mehmet Özdemir. Liegt zu viel Staub in der Luft, muss er das ändern. Unter Tage regeln das Schleusen. Özdemir öffnet die Wettertür mit einem Schwung. Wenn ihm hier, etwa 1200 Meter tief im Erdboden, der Wind ins Gesicht bläst, kennt er meist bereits die Ursache: Dann ist der Tunnel einfach zu schmal. Özdemir geht ein paar Schritte die Gleise entlang. Hinter der Kurve ist es wieder still. Draußen sind diese Dinge komplizierter.

Özdemirs Bergwerk, die Auguste Victoria in der Ruhrgebietsstadt Marl, muss am Freitag schließen, und daran ist das Klima nicht ganz unbeteiligt. Eine Woche, nachdem sich bei der Konferenz in Paris 195 Staaten darauf geeinigt haben, den Ausstoß von Treibhausgasen zu begrenzen, geht im nordrhein-westfälischen Revier das Steinkohlezeitalter bereits mit einem weiteren Schritt dem Ende entgegen: Die Auguste Victoria ist die drittletzte Zeche, die ihre Förderung einstellt. In drei Jahren folgen die Bergwerke in Bottrop und Ibbenbüren, dann ist Schicht.

Bisher brachten Schiffe die Steinkohle aus Marl über den Weser-Datteln-Kanal zu deutschen Kraftwerken. Auch künftig werden noch Kohlecontainer diesen Kanal entlangfahren - doch schon heute stammen sie überwiegend aus Russland, den USA oder Kolumbien. Deutschland importiert mittlerweile fast doppelt so viel Steinkohle wie vor zehn Jahren - im Jahr 2014 waren es laut Statistischem Bundesamt etwa 57 Millionen Tonnen im Wert von mehr als vier Milliarden Euro. Der heimische Abbau lohnt sich längst nicht mehr. Bereits 2007 hat der Bundestag den Ausstieg aus dem defizitären Rohstoff bis Ende 2018 beschlossen.

Deutschland importiert fast doppelt so viel Steinkohle wie vor zehn Jahren

Das Klima-Abkommen hat nun die Debatte über ein vollständiges Ende fossiler Energie befeuert. Auch den Braunkohle-Tagebau, in dem nach Angaben der Gewerkschaft IG BCE bundesweit 15 500 Menschen arbeiten, und die Kraftwerke mit 5500 Beschäftigten soll es spätestens im Jahr 2050 nicht mehr geben, sagt Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD). Im kommenden Jahr will sie einen Klimaschutzplan vorlegen, mit dem sie deutsche CO₂-Emissionen schrittweise um bis zu 95 Prozent verglichen mit 1990 senken will. Noch vor der Sommerpause 2016 soll der Plan ins Kabinett. Einigen dauert das viel zu lang. Klimaschützer protestieren gegen die schmutzige Energiegewinnung, die Polizei jagt sie mittlerweile mit Tränengas aus der rheinischen Braunkohle-Grube Garzweiler.

Klar ist wohl: Der Kohleausstieg wird kommen. Die Energiekonzerne RWE und Eon bauen ihre Kohlesparten um, Unternehmen zögern, weiter Geld in fossile Brennstoffe zu stecken - die Versicherung Allianz kündigte jüngst an, Kohleinvestitionen zu beenden. Im Steinkohleabbau war Tagebaubetreibern und Bergleuten elf Jahre lang bewusst, dass die Zechen schließen werden. Auch jetzt spricht Umweltministerin Hendricks von einem sozialverträglichen, langsamen Ausstieg. Die Bergmannsgewerkschaft IG BCE schlägt ihr vor, damit doch erst einmal in Indien anzufangen, statt "eine Ausstiegsdiskussion nach der anderen zu beginnen". Der Industrieverband BDI sieht das ähnlich - sodass die Grünen bereits einen Kohleausstieg am "Sankt-Nimmerleins-Tag" befürchten.

"Dekarbonisierung" sagen die Politiker in diesen Tagen. "Kein Bergmann fällt ins Bergfreie", sagen die Gewerkschafter. "Glückauf", sagt Mehmet Özdemir zum Kumpel im Aufzug und zieht die Stahltür hinter sich zu.

Der Käfig rappelt, es ist duster, nur die Grubenlampe wirft einen Lichtkreis auf sein Hemd. Auf Sohle sechs steigt er aus, seine Schritte lassen den Split rascheln. Da stehen die winzigen Lokomotiven, die gelben Waggons, in die sie sich zu zwölft gedrängt haben. Die Schienenfahrräder, auf denen zwei Mann fahren können. "Hier ist es sicher", sagt Özdemir: "Hier gibt es keinen Straßenverkehr."

Özdemir ist ein kräftiger Mann mit einem runden Gesicht und mandelförmigen Augen. Er ist 48 Jahre alt, 32 davon hat er unter Tage gearbeitet. Sein Vater war Bergmann und sein Bruder auch. Der Schacht ist Familie, jeder passt auf den anderen auf. Statt in der Feuerwehr war Özdemir in der Grubenwehr. In den Achtzigern fuhr er in Hamm noch mit dem Fahrrad zur Zeche, heute kommt er 75 Kilometer mit dem Auto. Als er damals das erste Mal in den Berg fuhr, gab es im Ruhrgebiet noch 22 Zechen mit 110 000 Bergleuten, bevor ein Bergwerk nach dem anderen schloss.

Viele Kumpel wurden zu "Verlegeprofis". Mehmet Özdemir hat schon zwei Mal den Arbeitsplatz wechseln müssen, weil seine Zeche die Förderung einstellte. Auch diesmal gehen 440 der übrig gebliebenen 1000 Kumpel für die letzten drei Jahre von Marl nach Bottrop. 61 Auszubildende, die hier noch im Januar ihre Prüfung ablegen werden, beginnen ihre Bergmannslaufbahn mit einem Dreimonatsvertrag - und beenden sie dann.

Die Gruben haben Marl geprägt. Vor der Kohle gab es hier mehr Ziegen als Menschen

"Die Ausbildungsplätze werden uns fehlen", sagt der Bürgermeister von Marl, Werner Arndt (SPD). Im Bergwerk wurden auch die Jugendlichen Elektriker, die es draußen schwer hatten, sagt er. Auf der stillgelegten Fläche der Auguste Victoria will er nun Industrie ansiedeln, "1000 neue Arbeitsplätze", sagt Arndt. Doch vor 2020 wird kein Unternehmen kommen können und Jobs, die mit dem 3500 Euro-Durchschnittslohn der Bergmänner mithalten, werde es wohl kaum geben. Arndt sagt, er brauche nun Geld für die Erschließung der Flächen, vom Land, vom Bund, von der EU. Umweltministerin Hendricks sagt, der Kohleausstieg soll ein "gesteuerter Strukturwandel ohne Strukturbrüche" werden. Was das in Zahlen heißt, weiß Arndt noch nicht.

Marl ist eine graue Stadt. Viele Häuser haben gleichlange Seiten, ein spitzes Dach und Fassaden, über denen ein dunkler Schatten liegt. Zechenhäuser, sagen die Leute. Die Gruben haben Marl geprägt. Bevor die Kohle kam, gab es hier mehr Ziegen als Menschen. Heute hat die Stadt etwa 86 000 Einwohner und eine verlassene Innenstadt mit Markisen aus Stahl. Aus den Gebäuden am bereits stillgelegten Schacht Eins ist eine Wohnanlage für Senioren geworden.

Die Bergmannssolidarität, das Liedgut - bald wird es für all dies nur noch einen Ort geben: das deutsche Bergbau-Museum in Bochum. Im kommenden Jahr wird die Auguste Victoria abgewickelt. Mehmet Özdemir hat sich entschieden, dafür auf dem Gelände zu bleiben. Erst dann erwartet ihn der Vorruhestand.

"Glückauf Salam Alaikum", sagt Özdemir zum Kumpel an der Messgeräterückgabestelle. In der Umkleidehalle sitzen Männer mit runden Bäuchen auf einer schmalen Bank. Sie tragen Unterhosen, ihre Grubenkleidung hängt schon in Stahlkörben unter der Decke der "Kaue". Ein Kumpel von der Grubenwehr bleibt stehen. "Kommst du später zum Abschiedstreffen?" Özdemir blickt zur Seite. "Ich muss 75 Kilometer fahren, da kann ich nur Fanta und Kaffee trinken. Das bringt's ja auch nicht." Der Kollege sieht ihn mit großen Augen an. "Gute Schicht", sagt Özdemir. Er zieht seine Jacke an. Draußen ist es regnerisch.

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Quelle:
SZ vom 17.12.2015
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