Es war ein merkwürdiges Déjà-vu, als im vergangenen Sommer mehrere Tageszeitungen Schaubilder publizierten, die die Rüstungsstärken und Streitkräftepotenziale der Nato und Russlands vergleichend gegenüberstellten.
In den 1970er- und 1980er-Jahren gehörten solche Grafiken mit ihren Soldaten-, Panzer- und Raketensymbolen in Blau und Rot zur medialen Allgegenwärtigkeit des Kalten Krieges, und renommierte Forschungsinstitutionen wie das Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) oder das Stockholm International Peace Research Institute (Sipri) dokumentierten ihre Expertise in der Erfassung und Bewertung militärischer Kräfteverhältnisse in umfangreichen Publikationen.
Das Interesse an solchen Kompilationen speiste sich aus der Vorstellung, ein ausdifferenziertes Rüstungsgleichgewicht zwischen Warschauer Pakt und Nato, im nuklearen Bereich vor allem zwischen Sowjetunion und USA, könne zur Stabilisierung der Ost-West-Beziehungen beitragen, das System der atomaren Abschreckung festigen und dadurch das Umschlagen des Kalten Krieges in einen mit Kernwaffen ausgetragenen Dritten Weltkrieg verhindern.
Dass es zu diesem Nuklearkrieg nicht kam, wird in der Retrospektive noch stärker als in den Jahrzehnten des Kalten Krieges selbst mit der Logik der nuklearen Abschreckung begründet. Geradezu sehnsuchtsvoll wendet sich heute mancher Blick zurück auf die vermeintliche Stabilität, Berechenbarkeit und Geordnetheit internationaler Politik vor 1990.
Doch dieser Blick ist reduktionistisch, weil er internationale Beziehungen auf das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten und ihren Militärbündnissen verengt und die Vielzahl von Kriegen und bewaffneten Konflikten jenseits dieser Ebene ignoriert.
Dieser Blick ist aber auch einseitig, weil er die moralische Problematik einer Stabilitätspolitik ausklammert, die auf der wechselseitigen Drohung mit atomarer Vernichtung beruhte, auf mutual assured destruction - MAD.
Das war in den Jahren um 1980 das starke Argument der Friedensbewegung, die sich in der Auseinandersetzung um die Nato-Nachrüstung zwar nicht durchsetzen konnte, deren Positionen aber gleichwohl eine Wirksamkeit entwickelten, die bis ins Weiße Haus reichte und die Rüstungs- beziehungsweise Abrüstungspolitik Ronald Reagans seit 1983/84 mitbestimmte.
Die Logik der Abschreckung: "Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter."
Die Rüstungskontrollverhandlungen, mit denen insbesondere die USA und die Sowjetunion seit den späten 1960er-Jahren versuchten, das nukleare Gleichgewicht des Schreckens zu erhalten, könnte man vor diesem Hintergrund als reine Stabilisierung des machtpolitischen und militärischen Gegensatzes bewerten, als eine Art kompensatorische Handlung, die darüber hinwegtäuschen sollte, dass die Grundkonfrontation gerade nicht abgebaut werden konnte, und die darüber hinaus den Eigendynamiken und Eigeninteressen der militärisch-industriellen Komplexe in West und Ost Rechnung trug.
Das gilt besonders für die zwischen 1969 und 1979 geführten und nun von Arvid Schors umfassend untersuchten bilateralen amerikanisch-sowjetischen Rüstungskontrollverhandlungen im Bereich strategischer Nuklearwaffen, jener Waffen interkontinentaler Reichweite also primär, mit denen sich die USA und die Sowjetunion wechselseitig bedrohten.
In diesen Verhandlungen, Strategic Arms Limitation Talks genannt (Salt), ging es nicht um den Abbau atomarer Arsenale, sondern um die Festlegung von Obergrenzen, um ein ausdifferenziertes Gleichgewicht unterschiedlicher Waffensysteme, um die Sicherung der sogenannten "Zweitschlagsfähigkeit" und damit der Abschreckung insgesamt.
So gehörte zum Salt-I-Vertragswerk von 1972 der ABM-Vertrag, der die Errichtung umfassender Raketenabwehrsysteme verbot, um diese "Zweitschlagsfähigkeit" zu erhalten - und einen "Erstschlag" zu verhindern. "Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter." So war die Logik der Abschreckung.
Landläufig werden die Salt-Verhandlungen und Salt-Verträge von 1972 und 1979 in den Kontext der Entspannungspolitik gestellt, die zwischen den Supermächten nach der Kuba-Krise von 1962, als beide Seiten in den nuklearen Abgrund geblickt hatten, an Dynamik gewann.
Als angesichts wachsender Konfrontationen in der südlichen Hemisphäre und schließlich mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979 die Entspannung zwischen Washington und Moskau endete und eine neue Phase konfrontativer Politik begann, wurde der unterschriebene Salt-II-Vertrag zwar vom amerikanischen Senat nicht mehr ratifiziert, aber er wurde - von beiden Seiten - stillschweigend eingehalten.
Die Gemeinsamkeit der Interessen ist seit Putins Antritt systematisch zerstört worden
Das lässt sich indes nicht erklären, wenn man den Salt-Prozess ausschließlich mit der Politik der Détente in Verbindung bringt und sich für den Verlauf der Verhandlungen, die einschließlich ihrer Vorbereitungen seit den frühen 1960er-Jahren fast zwei Jahrzehnte andauerten, nicht weiter interessiert. Genau hier setzt Arvid Schors an; seine Studie stellt die Dynamik des Salt-Prozesses vor allem aus amerikanischer Perspektive und auf der Grundlage amerikanischer Quellen dar.
Über die Darstellungen beteiligter Akteure, Strobe Talbott oder Raymond Garthoff beispielsweise, geht sie deutlich hinaus. Das wichtigste Ergebnis der Arbeit ist aber nicht die minutiöse, streckenweise sehr kleinteilige Rekonstruktion von Verhandlungspositionen, Kompromissen und auf den ersten Blick enttäuschenden Vertragsbestimmungen.
Wichtiger ist, dass das Buch zeigen kann, wie durch den kontinuierlichen Verhandlungsprozess und den so institutionalisierten Dialog auf unterschiedlichen Ebenen, von den Gipfelbegegnungen der politischen Spitzen bis hin zu den permanenten Arbeitstreffen der Rüstungsexperten aus Militär und Diplomatie, das Verständnis für die wechselseitigen Positionen wuchs, wie sich in den vielfach als nukleare Erbsenzählerei abgetanen und in ihrer politischen Bedeutung marginalisierten Rüstungskontrollverhandlungen eine gemeinsame Sprache herausbildete, man sich zu verstehen begann und schließlich ein Vertrauensklima entstand, das über das Ende der Détente hinausreichte und zu jener echten Abrüstungsdynamik der Jahre seit 1985 entscheidend beitrug.
Diplomatie und Spionage im Kalten Krieg:Verräterische Puppen
Das FBI spionierte meisterlich, doch in einigen Auslandsbüros machten die amerikanischen Agenten plumpe Anfängerfehler. Vor allem die Vertretungen des FBI in Rom und Paris fielen negativ auf, wie nun Akten aus dem Archiv von J. Edgar Hoover belegen.
Seit der russischen Annexion der Krim 2014 ist viel von einem neuen Kalten Krieg die Rede. Dass sich Russland und die USA in einer Machtkonfrontation mit verschiedenen Schauplätzen gegenüberstehen und dass vor diesem Hintergrund Streitkräftevergleiche wieder Konjunktur zu haben scheinen, ist kein Argument für einen neuen Kalten Krieg, zumindest aber nicht für ein Wiederentstehen jener kooperativen Strukturen der Konfliktaustragung, die die Ost-West-Beziehungen seit den 1960er Jahren charakterisierten.
Die Gemeinsamkeit der Interessen, die dem SALT-Prozess den Weg ebnete, ihn verstetigte und ihm zu Wirkungen weit jenseits der Rüstungskontrolle verhalf, ist den Jahren nach 1990 zunächst erodiert und dann, seit Beginn der Ära Putin, systematisch zerstört worden. Dass die Präsidentschaft Donald Trumps dazu beitragen wird, eine solche Gemeinsamkeit wieder entstehen zu lassen, darf man bezweifeln. Die SALT-Verträge und andere Rüstungskontroll- und Abrüstungsabkommen des Kalten Krieges waren, das zeigt das Buch von Schors, viel mehr als nur Deals.
Arvid Schors: Doppelter Boden. Die SALT-Verhandlungen 1963 - 1979, WallsteinVerlag Göttingen 2016, 530 Seiten, 46 Euro. E-Book: 36,99 Euro.
Eckart Conze lehrt Neuere Geschichte in Marburg und gehört zu den Begründern einer Historischen Sicherheitsforschung.