Süddeutsche Zeitung

EU-Flüchtlingspolitik:Muss Ungarn keine Flüchtlinge mehr aufnehmen?

  • In wenigen Tagen läuft der EU-Beschluss aus, wonach Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten verteilt werden sollten.
  • Richtig funktioniert hat das nie, nur wenige Staaten haben ihr Soll bisher erfüllt. Ost und West streiten erbittert.
  • In Brüssel wird mit einer Lösung noch vor Ende des Jahres gerechnet. Diskutiert wird ein permanentes Flüchtlingsverteilungssystem für Krisenlagen, das mit finanziellen Anreizen für engagierte Staaten verbunden sein könnte.

Von Daniel Brössler und Thomas Kirchner, Brüssel

Der 26. September ist ein interessantes Datum. Nicht nur, weil die EU an diesem Tag über Konsequenzen aus dem Skandal mit verseuchten Eiern berät. Sondern weil dann die Frist abläuft, die die EU-Innenminister im September 2015 gesetzt hatten. Zwei Jahre lang, so beschlossen sie auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, sollten bis zu 120 000 Schutzsuchende aus den überlasteten Außengrenzstaaten Griechenland und Italien in andere Länder der EU gebracht werden.

Die Minister entschieden mit qualifizierter Mehrheit, gegen den Willen mehrerer mittel- und osteuropäischer Staaten. Die Slowakei und Ungarn klagten - und kassierten eine deftige Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Sie - wie auch Polen und Tschechien -, die bisher keine oder fast keine Asylbewerber aufgenommen haben, müssen ihrer Pflicht nun nachkommen. Eigentlich.

Was aber, wenn sie das nicht tun? Was ändert sich, wenn der Beschluss kommende Woche ausläuft? Die Antworten sind schwierig, es fehlt an Gewissheiten. Sicher ist: Der Streit könnte Ost und West dauerhaft entzweien. Lösen lässt er sich, wenn überhaupt, wohl nur mit politischen Mitteln, sprich: einem Kompromiss.

Wer erwartet hatte, dass das Luxemburger Urteil in Budapest zu einem Umdenken führt, den belehrte der streitlustige ungarische Regierungssprecher Zoltán Kovács eines Besseren. Wohl nicht zufällig erschien er diese Woche in Brüssel. Seine Botschaft: "Unser Gewissen ist rein." Die ungarische Regierung gibt zwar zu, den Rechtsstreit verloren zu haben, beharrt aber darauf, alles richtig gemacht zu haben. Nicht die Umverteilung von Flüchtlingen, sondern die Schließung der Balkanroute dank des ungarischen Zaunbaus habe die Krise entschärft. "Wir sind zutiefst überzeugt, dass Ungarn von Beginn dieser Krise an Solidarität gezeigt hat", betonte Kovács.

Warum wird Ungarn bestraft, Österreich nicht?

Was folgt daraus? Ungarn argumentiert sophistisch. Man erkenne das Urteil an, sagte Kovács, werde aber nicht aufhören, es "politisch und rechtlich" zu bekämpfen. Die EU-Kommission beharrt darauf: Ungarn müsse wie vereinbart 1294 Flüchtlinge übernehmen, die Pflicht gelte nach dem 26. September noch "eine vernünftige Zeit" weiter. Die Behörde hat ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, das mit hohen Geldstrafen enden könnte. Um das zu vermeiden, würde es aber vermutlich reichen, wenn Ungarn die Aufnahme von vielleicht zehn Flüchtlingen verkündete. Schließlich ist das gesamte Programm ohnehin auf ungefähr 35 000 Umzuverteilende geschrumpft.

Ist Ministerpräsident Viktor Orbán zu diesem symbolischen Schuldeingeständnis bereit? Innenpolitisch mag es ihm lohnender vorkommen, weiterhin den Kämpfer gegen Brüsseler Bevormundung zu geben. "Die rechtlichen und politischen Diskussionen sind noch nicht beendet", ließ Kovács wissen.

Tatsächlich geht die EU bei der Umsetzung des Beschlusses nicht konsequent vor. Nur wenige EU-Staaten haben ihr Soll ganz oder überwiegend erfüllt. Warum wird Ungarn bestraft, bei dem eine Null auf dem Zettel steht, aber nicht Österreich, das bloß 15 von 1953 aufgenommen hat? Deutschland hängt mit einer Quote von 28 Prozent hinterher, wird aber nur ermahnt.

"Erzwungene ,Solidarität' ist keine Solidarität, sondern Zwang"

Inzwischen wird auch in Westeuropa wild debattiert über Sinn und Unsinn des Umverteilungsbeschlusses und dessen Billigung durch den EuGH. Die Richter, klagt der Tübinger Europarechtler Martin Nettesheim im Verfassungsblog, hätten das Recht bewusst "so gelesen, dass es sich der Politik nicht entgegenstellte". Nirgends in den EU-Verträgen sei ein gemeinsamer Wille zu erkennen, Fragen der Umverteilung von Flüchtlingen auf EU-Ebene, also per Mehrheitsbeschluss, zu entscheiden. Letzterer stelle somit einen unzulässigen "Eingriff in die nationale Verfassungsidentität" der Mitgliedstaaten dar.

Durch die Pflicht, eine "überschaubare Zahl" von Asylbewerbern aufzunehmen, komme man nicht einmal in die Nähe eines solchen Eingriffs, entgegnet der Gießener Professor Jürgen Bast. Hier gehe es um Grundlagen der freiwilligen Mitgliedschaft im Club der EU, da könne nicht jeder nach Belieben sein alternatives Selbstverständnis geltend machen.

Einen Ausweg weist Steve Peers auf der Internetseite Statewatch: Dieser Kampf zeige, dass es "politisch unrealistisch" sei, wenn die EU versuche, außerordentlich umstrittene politische Vorhaben, egal wie rechtskonform sie seien, ohne Konsens aller beteiligten Mitgliedstaaten umzusetzen. Oder, wie Nettesheim sagt: "Erzwungene ,Solidarität' ist keine Solidarität, sondern Zwang. Der konstitutionellen DNA der EU hätte ein konsensuales Vorgehen, jedenfalls aber ein System entsprochen, das mit Anreizen arbeitet."

Diese Anreize oder Ausgleichszahlungen spielen nun eine wesentliche Rolle beim Versuch, den Notfall-Beschluss von 2015 durch ein permanentes Flüchtlingsverteilungssystem für Krisenlagen zu ersetzen, als Teil der Dublin-Reform. Hier droht Ungarn und seinen Verbündeten abermals eine verpflichtende Quote. Im Mehrheitsbeschluss sehen sie einen Präzedenzfall, weshalb sie politisch an ihrem Widerstand festhalten. Alle Ideen, sich von der Aufnahme von Flüchtlingen durch Geld oder andere Beiträge weitgehend freikaufen zu dürfen, sind aber bisher gescheitert. In Brüssel wird dennoch mit einer Lösung noch vor Ende des Jahres gerechnet. Wenn es nicht im Konsens gehe, kündigt einer der Beteiligten an, "dann eben wieder per Mehrheitsentscheidung".

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Quelle:
SZ vom 22.09.2017/jsa
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