In dieser Woche beginnen in vielen Bundesländern die Abiturprüfungen. Eine besondere Herausforderung für die Schülerinnen und Schüler, die im vergangenen Jahr viel Zeit in Distanz- und Wechselunterricht verbracht haben.
Patricia Drewes verantwortet die didaktische Leitung am Öffentlich-Stiftischen Gymnasium in Bielefeld. Sie unterrichtet Deutsch und Geschichte. Ende 2020 hat sie mit Gleichgesinnten, darunter Schulleiter und Hochschuldidaktiker, das Institut für zeitgemäße Prüfungskultur gegründet.
SZ: Sie haben einen Deutschkurs aufs Abitur vorbereitet. Wie geht es den Schülerinnen und Schülern nach einem Jahr Corona-Pandemie?
Drewes: Viele machen sich Sorgen, wenn sie hören, dass sie angeblich einer "verlorenen Generation" angehören. Auch weil das Ifo-Institut schon ihre künftigen Gehaltseinbußen ausgerechnet hat. Wir haben versucht, ihnen diese Bedenken zu nehmen, und sie so gut wie möglich auf die Prüfungen vorzubereiten.
Wie haben Sie das unter Corona-Bedingungen gemacht?
Seit 22. Februar gab es vormittags vier Stunden Präsenzunterricht in geteilten Kursen, mit Abstand und Maske. Der Nachmittagsunterricht fand auf Distanz statt - synchron über Online-Konferenzen und asynchron mithilfe von Lernvideos. Dieses Jahr haben wir zum ersten Mal für verschiedene Fächer vertiefende Online-Workshops zur Auswahl angeboten, um bestimmte Abiturschwerpunkte zu vertiefen.
In Nordrhein-Westfalen, wo Sie unterrichten, wurde das Abitur wegen der Pandemie um neun Tage verschoben, um die Vorbereitungszeit zu verlängern. Es gibt zum Beispiel im Fach Deutsch eine Aufgabe mehr zur Auswahl. Sind diese Erleichterungen ausreichend?
Nein, das ist zu wenig. Wer jetzt Abitur macht, ist in einem hohen Maß davon abhängig, wie gut der Distanzunterricht im vergangenen Jahr funktioniert hat. Das ist sehr unterschiedlich und hängt von technischen, pädagogischen und didaktischen Faktoren ab.
Warum gibt es nicht mehr Erleichterungen für die Abiturienten?
So, wie unser Schulsystem funktioniert, sehe ich tatsächlich nicht mehr Spielraum. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir grundsätzlich eine andere Prüfungskultur brauchen. Die Art, wie wir Leistung messen, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Pandemie macht das gerade deutlich sichtbar.
Wo liegt das Grundproblem?
Es wird noch immer zu viel auswendig Gelerntes abgefragt und zu wenig Wissenstransfer und Selbstwirksamkeit in Prüfungen ermöglicht. Leistung darf nur unter steter Kontrolle erbracht werden. Die Selektionsfunktion steht vielfach im Vordergrund: Am Ende einer Unterrichtseinheit wird geschaut, wer eine Leistung erbracht hat und wer nicht. Dann wendet man sich etwas Neuem zu. Es ist viel sinnvoller, den Schülern vermehrt auch während des Lernprozesses zurückzumelden, wo sie stehen und wie sie sich verbessern können.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Die Schüler meines Geschichtskurses haben kürzlich im Geschichtsunterricht an individuellen Projekten über Migration im 20. Jahrhundert gearbeitet, etwa zur Flucht aus der DDR oder zu "Gastarbeitern" in Deutschland. Ich habe sie dabei begleitet. Anschließend gab es eine Open-Media-Klausur. Das heißt, Hilfsmittel waren erlaubt. Ich war erstaunt, wie fundiert diese 15-Jährigen mit den zugrunde liegenden Quellen umgegangen sind. Es stand nicht die Reproduktion von Zahlen oder vermeintlichen Fakten im Vordergrund. Stattdessen war mehr Zeit für die Formulierung individueller Sach- und Werturteile, die kein Hilfsmittel abnehmen kann.
Wie kommt so eine Prüfung bei den Schülerinnen und Schülern an?
Nach dieser Klausur sagte mir eine Schülerin, sie habe zum ersten Mal gar keine Zeit gehabt, Angst zu bekommen. Leistung wird so viel berechenbarer. Wer sich kontinuierlich anstrengt, erreicht ein gutes Ergebnis und ist nicht darauf angewiesen, dass in Leistungsüberprüfungen zufällig die Fragen drankommen, auf die er oder sie sich vorbereitet hat. Der praktische Nebeneffekt in der Pandemie: Weil es bei Open-Media-Prüfungen nicht auf Wissen ankommt, das sich schnell irgendwo abschreiben lässt, konnten auch diejenigen teilnehmen, die gerade in Quarantäne waren.
Glauben Sie, dass sich durch die Erfahrungen während der Pandemie etwas daran ändert, wie geprüft wird?
Ich hoffe es. Denn wenn wir verändern möchten, wie gelehrt und gelernt wird, müssen wir bei der Leistungsüberprüfung ansetzen. Wie mein Kollege Björn Nölte immer sagt: "Als Lehrer kann ich mir die schönsten Dinge für den Unterricht ausdenken - am Ende fragen Schüler immer, was davon für die Prüfung relevant ist."