Süddeutsche Zeitung

Abdullah Gül zur EU-Flüchtlingspolitik:"Eine Schande für die Menschheit"

Der türkische Ex-Präsident Abdullah Gül wirft der EU mangelnden Einsatz für Flüchtlinge vor. Im SZ-Interview sagt er: Wenn Europa ein globaler Akteur sein wolle, müsse es sich auch so verhalten.

Von Stefan Braun, Berlin

In Syrien und im Irak tobt ein Krieg, Jemen und Libyen drohen zu zerfallen, Millionen Menschen sind verzweifelt auf der Flucht - und die EU unternimmt längst nicht alles, was sie unternehmen könnte. Zu diesem Schluss kommt der frühere türkische Staatspräsident Abdullah Gül und übt massive Kritik an der Europäischen Union.

"Man hört oft, dass Europa ein globaler Akteur sein will. Dann muss es sich auch wie ein globaler Akteur verhalten", sagte Gül der Süddeutschen Zeitung. Im Nahen Osten würden Staaten zerfallen und sich selbst zerstören, würden sich "unendlich viele menschliche Dramen" vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielen. Angesichts dieser "Schande der Menschheit" könne die EU nicht länger so tun, als ginge sie das nicht viel an. "Europa muss hier zeigen, dass es Verantwortung übernimmt, hilft, Flüchtlinge aufnimmt'', mahnte das frühere Staatsoberhaupt. Europa müsse langfristig denken, müsse sich fragen, was es in 50 Jahren sein wolle, betonte der in der EU hoch angesehene Gül. "Nur wer jetzt agiert, wird dann stark sein." Wer jetzt nicht handele, werde früher oder später selbst von den Problemen betroffen werden, das zeigten die Flüchtlingsströme deutlich.

Gül will EU-Mitgliedschaft der Türkei

Mit Kritik und Unverständnis reagierte Gül auch auf die Tatsache, dass die EU offenbar kein großes Interesse mehr habe, die Türkei aufzunehmen. "Ich bedauere besonders, dass die EU in der Türkei keinen strategischen Gewinn, keinen zentralen Partner sieht. Das halte ich für einen schweren Fehler", so Gül. "Eine EU mit einem islamischen Mitgliedsland - das würde großen Widerhall auf der ganzen Welt finden", sagte der Politiker, der nach dem Ende seiner Amtszeit wieder in die regierende AKP eingetreten ist. Eine Mitgliedschaft der Türkei wäre "eine großartige Botschaft und in der krisenhaften Situation unserer Zeit eine historische Leistung", meinte Gül.

In diesem Zusammenhang erinnerte der 64jährige an die Stimmung, die noch zu Beginn der Beitrittsverhandlungen geherrscht habe. Damals habe es "eine große Begeisterung und Unterstützung in der arabisch-islamischen Welt'" gegeben.

Sorgen bereitet Gül der Konflikt des Westens mit Russland. Die Annexion der Krim durch Russland sei ein großes Problem; inzwischen gäbe es die schärfsten Spannungen seit dem Fall der Mauer. "Man muss von einem zweiten Kalten Krieg sprechen", so Gül. Trotz des Konflikts warnte er davor, zu hart zu reagieren. "Man sollte Entschlossenheit zeigen, aber nicht provozieren, nicht dauernd neue Vorwürfe machen." Außerdem müsse man sich fragen, ob "Wirtschaftssanktionen das bringen, was man sich erhofft".

In der Türkei gibt es durchaus Spekulationen, ob Gül wieder stärker in die Politik einsteigen möchte. Er selbst aber äußert sich zu möglichen Ambitionen nicht.

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Quelle:
SZ vom 08.07.15/mane
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